Allein die Mehrzahl des Wortes Realität finde ich entzückend. Sie impliziert, dass es nicht nur mehrere Realitäten gibt, sondern auch, dass ich deren mehrere besitzen kann. So schaue ich mir meine Realitäten einmal an: Da ist mein KleinHäuschen. Es gehört mir und somit ist es sogar im engeren Sinne des Wortes eine Realität. (Wenn ich später einmal ruhen sollte, möchte ich auch diese Bezeichnung auf meiner Grabplatte).
Die nordamerikanischen Indianer nun, welche von den weißen Realitätensuchern überrascht wurden, kannten kein Eigentum an Grundstücken, Häusern und Land. Sie lebten gewissermaßen außerhalb der weißen Realitäten, und das ist ihnen nicht gut bekommen. Ihre inneren Realitäten schlugen nicht zu Buche.
Eine meiner Ausbildungskollegen hatte jedes Mal, wenn jemand sagte: "Das ist mein!" einen Spruch zur Antwort: "Schließ die Augen! Alles, was du dann siehst, das ist dein!" Er fand dieses Sprüchlein so lustig, dass er es bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit anwendete. Nun, mancher Acid-Head war entzückt oder entsetzt über die Fülle der Realitäten die ihn bei geschlossenen Augen heimsuchten. Bei geschlossenen Augen lassen sich Bilder schauen, und wenn ich intensiver die zarten Hände der Liebsten auf der Haut spüren möchte, schließe ich die Augen. Oder wenn ich mich ganz dem Genuss des Musikhörens hingeben möchte oder die Aromen eines leckeren Gerichtes ganz auf der Zunge zergehen lasse. Sind also diese Dinge die eigentlichen Realitäten? Ich selber vermute schon. Wusste doch schon meine Großmutter: "Nackt werden wir geboren und nackt gehen wir wieder".
Da mag ich noch sosehr Realitäten - Besitzer im Äußeren sein, am Ende nehme ich nur das mit, was ich bei geschlossenen Augen sehen (und fühlen) kann. Nicht umsonst gibt es den Brauch, einem Toten die Augen zu schließen als letzte Liebesgabe. Bei geschlossenen Augen sind die Realitäten realer. Die, welche ich eigentlich besitze, wenn der Ausspruch des Kollegen dann Wahrheitsgehalt hat.
Es gibt eine Vielzahl von Realitäten, sonst ließe von diesem Wort wohl kein Plural formen. Auch das eröffnete mir das Nachdenken über den Begriff auf der Grabplatte. Wenn ich meinen Abenddienst in einem öffentlichen Haus tätige, läuft in einem Gemeinschaftsraum der Fernseher nebenbei. Wir sind angehalten, darauf zu achten, dass dort immer der gleiche Nachrichtensender läuft. So sind meine beiden Dienste in der Woche auch immer meine Fernsehstunden, in denen ich eine mir fremde Realität bestaunen kann.
Dieser Nachrichtensender hat nämlich so seine Eigenheiten. Einmal gibt es alle halbe Stunde das, was er in seinem Namen führt: Nachrichten. Dann gibt es selbstverständlich vor und nach diesen Nachrichten die allgegenwärtige Werbung, dazwischen werden sogenannte Dokumentationen gesendet, die, wissenschaftlich verbrämt, wohl ein Abbild der Realität liefern sollen. Es ist eine sehr männliche Realität, die dort in der Regel gezeigt wird: Die größten Maschinen, die ausgefuchstesten Kriegsgeräte, dann Expeditionen in Urzeiten, wo brüllende Bestien herumlaufen, selbst wenn Insekten gezeigt werden, was selten vor kommt, scheinen auch diese brüllende Bestien zu sein. Dann wieder Polizeieinsätze in den von kriminellen Banden beherrschten Innenstädten in einigen Gegenden der Vereinigten Staaten, dann wieder etwas über die Entstehung der Welt, welche bekanntlich mit einem Big Bang begann, oder wieder Reportagen über mögliche Weltuntergänge durch Eiszeiten, Meteoriteneinschläge, Vulkanausbrüche und Tsunamiwellen.
Sowohl in den Nachrichten als auch außerhalb blitzt und kracht es, und wenn einmal etwas Bedeutendes geschieht, gibt es den Liveticker, wo neben Börsen- und Sportergebnissen eben auch der Fortgang der Ereignisse zum Beispiel in den Ruinen von Fukushima erscheint. In den eigentliche Nachrichten heißt es dann: "Die Regierung gibt erst einmal Entwarnung. Bleiben sie dran!", und dann können wieder knallige Vulkanausbrüche begutachtet werden, während unten im Liveticker die "reale" Katastrophe ihren Fortlauf nimmt.
Die Realität, welche mir dort vermittelt wird, ist eine andere, wie die, in der ich mich bewege, wenn ich zum Beispiel im Garten arbeite, die duftenden Äpfel ernte, die Bäume beschneide, die warme Herbstsonne, welche so unverhofft noch so spät im Jahr da ist, genieße. Es ist auch eine andere als die, in welche mein Sohn eintaucht, wenn er mit Freunden zusammen eines dieser Internet-Spiele spielt. Und eine andere als die, welche eine mit mir befreundete Sozialpädagogin erlebt, die mit Langzeitarbeitslosen arbeitet. Und. . . und. . . und. . .
So werden wir wohl alle zu Realitäten - Besitzerinnen und - Besitzern, und jede und jeder hat so seine eigene. manchmal beschleicht mich das Gefühl, wenn ich darüber nachdenke, dass "Realität" etwas sehr Subjektives ist. Dem wiederum wird die Mehrzahl gerecht: "Realitäten". Ich schließe dann mal die Augen. . .
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Cool! ... Auch die RealitätEN mit Dächern und Eingangstüren sind subjektiv, glaube ich ...
AntwortenLöschenSicher :-) Selbst das Glauben und das Glauben an den Glauben . . .
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