Donnerstag, 19. April 2012

Geschichten vom Transzendentalen Dachboden: Zuneigung


Vielleicht liegt es ja doch daran, dass ich oft und gerne vor meinem Ostfenster sitze und die aufgehende Sonne begrüße: Vor meinem Klein Häuschen steht ein Frühzwetschgenbaum, und dessen Zweige befinden sich direkt in Höhe des Daches. Letzten Sommer konnte ich die Hand aus meinem Dachfenster strecken und süße Pfläumchen ernten. 

Dieses Frühjahr nun folgendes Bild: Der Zwetschgenbaum voller Blütenknospen, und diejenigen Knospen, welche an dem Zweig sitzen, welcher dem Fenster am nächsten ist, sind schon geöffnet. Feundliche Blüten, die mich des morgens begrüßen. 

Sicherlich gibt es dafür alle möglichen Erklärungen, nah am Klein Häuschen ist es wärmer, geschützter, und dergleichen mehr. Doch gefällt mir die Vorstellung, dass mir dieser Baum so seine Zuneigung zeigt. Können Bäume lieben? Ich jedenfalls kann einen Baum lieben, und diesen besonders, ist er doch mein täglicher Morgenbegleiter. Also nehme ich einmal an, dass wir uns mögen, und der Baum hat seine eigene Sprache, dies auszudrücken. Ich brauche nur zu verstehen. . . Diese Vorstellung gefällt mir. 

Wenn ich dieser Vorstellung Raum gebe, sehe ich mit einem Male eine beseelte Welt um mich herum. Es gibt geheime Verbindungen überall, und die Vögel singen Lieder, mir verständlich, die Blüten zeigen mir ihre Düfte und Farben und freuen sich über das Gesehenwerden beim Gartenrundgang, und mich durchzieht das Gefühl: Wir gehören zueinander. Wie schön die Welt doch ist. . . 


Dienstag, 17. April 2012

Mehr aus dem Tierleben



Habe in der Nacht gewacht.
Katerlein schlich durch die Nacht.
Hat Krach gemacht.
Ich hab gedacht,
bald ist es acht.
Und dann gelacht.



Das entliche Häslein

Eine Hasenmutter ein Häslein gebar,
das wuchs heran und wurde sonderbar.

Es hatte einen Schnabel, um die Mutter zu begrüßen
und Schwimmhäute an den Hinterfüßen.

Auf dem Kopfe etwas, das wie ein Geweih aussah
und am Hinterteil ein Kringelschwänzchen gar.

Das geschah in Germaniens hohem Norden.
Wäre es in Bayern geschehn, wär´s ein Wolpertinger geworden.



Der Specht

Ein Specht, der trommelte so vor sich hin,
auf einem morschen Baumast.

Taketina tamtam

Das störte seine Nachbarin,
der waren die Synkopen verhasst.

Taketina tamtam

Die wünschte sich ganz ungefragt
Dreivierteltakt.

Tam ta ta tam ta ta tam

Doch der Specht, der sagte sich,
was ich nicht will, das kann ich nicht.

Taketina tamtam





 


Montag, 16. April 2012

Was ein(e) Dingefinder(in) ist und wie man Dingefinder(in) wird. . .


Der Dingefinder, sein Sohn und die Entdeckung der Zeithaberin


Eingang zu Fockes Garten in Bremen. Foto: Jörg Krüger


Der Dingefinder und die Zeithaberin, bzw. die Dingefinderin und der Zeithaber (oder sie/sie oder er/er), sind ein Liebespaar. Das heißt: ohne Zeithabe kein Dingefind und vice versa. Meine Entdeckung der inneren Zeithaberin entsprang meinem geduldigen Spazierenstehen mit meinem Sohn in seinen ersten Jahren. Die eigentliche Vermählung mit meiner inneren Zeithaberin fand statt, als ich ausgestiegen wurde. Nach einigen Monaten loser Arbeit entließ ich mich geheilt als Dingefinder aus der Gesellschaft. In der darauf folgenden Zeit begann ich damit, konsequent durch diese Entlassung zu gesunden.

Auf der Suche nach einem vierblättrigen Kleeblatt für eine liebe Freundin hörte ich von meinem damals fünf Jahre alten Sohn folgendes: „Papa, ich finde keines!“ (Während er angestrengt auf den Boden starrend durchs Gras stapfte) „Eigentlich kann man vierblättrige Kleeblätter gar nicht suchen, man kann sie nur finden.“

Fernsehsprecher: „Das unendliche All. . .“, Dingefinders Sohn (vier Jahre alt): „Alle Alle sind unendlich.“ So fand ich die Weisheit, ohne Löffel.


Was tut ein Dingefinder?

Er geht. Er leugnet die Herkunft des Menschen von den Sammlerinnen und Jägern nicht und empfindet das Erstellen von Pyramiden, Schnellstraßen und Wolkenkratzern nicht als ein Zeichen von Hochkultur. Sammlerinnen und Jäger hinterließen kaum Spuren.

Der männliche Dingefinder findet seine weibliche Seite, die Zeithaberin. Das wird sein erster Fund. Er wird zum Anbeter der Göttin der kleinen Dinge und findet weiteres. Was er nicht findet: Sich selbst oder das Gesetz der großen Wahrheit oder „den Weg“ oder . . .

Ein jedes Ding findet sich zur rechten Zeit am rechten Ort:

„Manchmal bin ich nur ein Sänger
doch was wollte ich denn mehr?
Ich bin dann wie ein Schmetterling
Außen bunt und innen leer.“

So finden sich zum Beispiel Lieder. Es finden sich Bilder in Wolken und Winke in Baumkronen. Ein Dingefinder findet immer den richtigen Weg. Der richtige Weg ist der, auf dem er das Richtige findet.


Wie wird jemand Dingefinder?

Dingefinder wird man nicht. Plötzlich ist man es. Du gehst des morgens sinnierend deine gewohnten Pfade. Zur Arbeit, Morgenspaziergang. Und da findest du zum Beispiel eine wundervoll gemaserte Kastanie frisch vom Baum. Dann findest du vier abgebrannte Streichhölzer. Schließlich noch zwei kleine, dicke Eicheln und vier Eichelhütchen. Und eh du dich versiehst, sitzt du am Wegesrand in der Sonne, zückst dein Taschenmesser und bastelst dir ein Fabeltier. Den Esel von den Bremer Stadtmusikanten. Das Mondenkalb. Und schon kommst du zu spät irgendwohin. Oder gar nicht. Deine Freiheit beginnt sich auszuweiten.

Nach einiger Zeit beginnst du damit, das Finden der kleinen Dinge zu kultivieren. Und siehe da: überall lauern kleine Mitbringsel auf dich: Sternchen in verschiedenen Größen und aus verschiedenen Materialien, Eichelhäherfedern, bunte Steine. Ich habe eine Zeit lang andauernd Fahrradklingeldeckel gefunden. Immer wieder Fahrradklingeldeckel. Bis ich mir ein Fahrradklingeldeckelxylophon bauen konnte.

Schließlich merkst du, dass das „ziellose“ Umherstreifen und Dingefinden gepflegt sein will. Dass du Zeit brauchst. Und du siehst immer mehr Tätigkeiten und Bindungen, die dir die Zeit nehmen. Wenn du dich der Zeithabe intensiv hingibst, wirst du irgendwann deine Zeithaberin finden, oder deinen Zeithaber. Je näher du deiner Zeithaberin kommst, um so mehr Dinge wirst du finden, die dir den Weg zu ihr zeigen. Wenn du deine Zeithaberin gefunden hast, seit ihr ein schönes Paar: der Dingefinder und die Zeithaberin. Es ist, als würdest du eine andere Welt betreten.


Ist es jeder und jedem möglich, Dingefinderin oder Dingefinder sein zu können?

Wie kann jemand etwas werden, das nie geworden sein kann? Kann eine Hyazinthe beschließen eine Hyazinthe zu werden? Der Ursprung der Menschheit ist das Dingefinden. Noch einmal: Ohne Zeithabe kein Dingefind. Eine Lebensentscheidung. (Mein Sohn ist in dieser Hinsicht der Meinung, man muss nur zum richtigen Zeitpunkt auf den Boden blicken, alles weitere wird sich finden).

Viel Spaß beim Finden des Zeithabers, der Zeithaberin und beim Dingefinden!

Dienstag, 10. April 2012

Der große Weg hat kein Tor. . .

. . . so hieß das Buch, welches ich von einer guten Freundin anlässlich unseres Einzugs in ein Bauernhaus zusammen mit Freundinnen und Freunden geschenkt bekam. Das war Mitte der achtziger in Ostfriesland, unser Landprojekt sollte später den Namen "Arbeitsgemeinschaft Moorhof" bekommen.

Der Autor dieses Buches ist ein Japaner namens Masanobu Fukuoka, und schildert den Weg dieses Bauernsohnes hin zu einer Landbaumethode, die er "Nicht-Tun-Anbau" nennt. In seiner Schlichtheit und Geradlinigkeit war diese Anbaumethode für mich sehr inspirierend, besonders da ich selbst stark von Laotses Schiften beeinflusst war, und vieles davon, praktisch angewendet, bei Fukuoka wiederfand.

So machten wir geborenen Stadtkinder uns auf den Weg, Getreideanbau zu erlernen. Wir wollten auch eine ähnliche Anbauweise entwickeln wie unser japanisches Vorbild, ohne Pflügen und in Handarbeit. Experimentieren konnten wir auf einem Hektar Acker und einem Stück Land nahe einem Waldstreifen, wo wir eine mehrjähige Roggenart anbauten, den Jöhannis- oder Waldstaudenroggen.

Als ich einen Bauern sah, der noch in althergebrachter Weise sein Korn mit der Sense erntete, war ich Feuer und Flamme und bot mich an, ihm zu helfen. Erstaunt und erfreut wurde mein Ansinnen aufgenommen, und das Erlernen der Getreideernte von Hand machte mich selbstbewusster. Nun ging das Vorbereiten des Ackers nicht ohne Pflügen ab, wir hatten einen kleinen, leichten Traktor, der auf dem Moorboden, den wir bewirtschafteten, nicht einsank, und an den wir einen Einschar-Gestellpflug hängten, mit dem wir unseren neuen Acker vorbereiteten. Das Einsäen ließen wir uns wieder von dem alten Bauern zeigen, es dauerte etwas, bis der richtige Schwung da war und die Körner gleichmäßig fielen.

Doch wir konnten im darauf folgenden Jahr unseren Roggen ernten. Ich hatte mir mittlerweile eine Windfege, "Stovmöhl", besorgt, mit der wir nach dem Dreschen das Korn reinigen konnten, und es gab erstes eigenes Roggenbrot. nach diesem Erfolg wollten wir uns tiefer in Fukuokas Anbauweise einarbeiten, doch leider mussten wir im Folgejahr den Hof abgeben. Der Besitzer war verstorben und die Erbengemeinschaft kündigte den Pachtvertrag. Uns verteilte es in alle Winde.

Später, nach einer Zeit als wandernder Gärtner, die mich durch Höfe und Projekte im In- und Ausland führte, lernte ich, dass Fuluokas Methode eben. . . Fukuokas Methode war. Dass der große Weg eben wirklich kein Tor hat, und Nachahmen kein Weg ist, der für mich beschreitbar war. Ich musste und ich durfte meinen eigenen Weg in den Garten finden, und der ist entschieden ein gärtnerischer. Von Fukuokas Methode ist da wenig zu finden. Von Fukuokas Geist sehr viel. Und so hat auch mein Gartenweg kein Tor. . . 

Samstag, 7. April 2012

Nützliche Dinge für die Gartenarbeit

Prüfe, womit du bindest. . .

Es gibt nützliche Dinge im Gartenbau. Ich selber bin da etwas traditioneller eingestellt, und was ich nutzbringend empfinde, sind oft auch die tradtionellen Produkte. Neben dem, dass im Garten dieses oder jenes geschnitten werden muss, muss auch das eine oder andere gebunden werden: Stauden zusammengebunden, kleine Bäumchen angebunden, Kletterpflanzen geleitet werden. Unentbehrlich im Garten für mich ist der papierumwickelte Draht zum Rebenbinden (Foto, Mitte), im Weinbau entwickelt. Der Draht ist stabil, ich fixiere damit alles mögliche auf die Schnelle. Besonders beim Leiten der Triebe von den Kletterpflanzen ist er unübertroffen. Einige der Drahtenden führe ich immer bei mir. Der große Vorteil ist, dass das Material, der Witterung ausgesetzt, binnen eines Jahres brüchig wird und somit nicht einwachsen kann. Gerade kürzlich habe ich so ein Desaster bei einigen herabgebundenen Zweigen von jungen Obstbäumen gesehen. Da ist die Sollbruchstelle im späteren Astwerk vorprogrammiert.

Für das Anbinden von Bäumen und auch Fixieren von größeren Zweigen benutze ich Kokosgarn (links im Bild), auch ein schönes Material, welches sich gut anfühlt und auch ästhetisch in den Naturgarten passt. Beim Anbinden der jungen Bäume am Pfahl wird darauf geachtet, dass keine Schlingen um den Stamm gebildet werden, die den Stamm im Wachstum einschnüren können.

Drittes Bund im Bunde: Rechts der Gärtnerbast. Davon hängt immer ein Bund im Schuppen, zum schnellen Zugriff. Damit werden die Stauden an den Haselnusszweigen oder Tonkingstäben zum Stabilisieren hochgebunden, Blumensträuße zusammengehalten, und und und. . . 

Es gibt Dinge, die immer zur Hand sein sollten. . . 

Dienstag, 3. April 2012

Geschichten vom Transzendentalen Dachboden

Nach den gestrigen Aktivitäten im Stadteil, überhaupt, nach dem stürmischen Frühlingsbeginn mit dem Start des Naschgartenprojektes, geradezu aus der Hüfte, den ersten Aktivitäten dazu, Presseterminen, Gesprächsrunden, Planungsrunden, Besucher, nach dem Beginn des Gartenjahres mit Obstbaumschnitt und Aussaaten, dazu noch der Besuch des Sohnes, die Tätigkeit an zwei Abenden im Nachbarschaftshaus, die gedankliche Vorbereitung auf die Fischereiprüfung, das Schreiben von Dingen wie diesem für die liebgewordenen Netze. . . 

. . . so viel, wie es sich liest, war es denn auch. So habe ich heut den Regen und die feuchte Kälte als Anlass gesehen, heute einmal einfach nichts zu tun. Nicht einfach nur "nichts" im nützlichem Sinne, der Regeneration dienend, oder einem anderen Zweck, nein, einfach nichts. Faulenzen bis an die Grenze zur Langeweile. 

Erstaunlich: Es geht. Das Nichtstun nur manchesmal unterbrochen, um für das leibliche Wohl zu sorgen, nichts kochen, wohlgemerkt, aber dem Impuls folgend einen Obst- Gemüsemixdrink herzustellen, verfeinert mit einem Schuss Rosenwasser. Dann, zum Durstlöschen, einen leicht gesalzenen Joghurt-Gurke-Mineralwasserdrink. Das war es denn schon wieder.

Nein, ich habe nicht meditiert. Ich habe ansatzweise damit begonnen, ein Gedicht zu schreiben, ich war eine Runde spazieren, ich habe Musik gehört, fünfziger-Jahre-Jazz, hab. . . ja, was eigentlich?

Ich habe mich auf meinem Transzendentalen Dachboden eingemummelt und war einfach glücklich. Das ist alles. . . 

Doch, etwas gab es noch: Ich hab ein bisserl in meinem Lesebuch geblättert. Und erfreut habe ich mich daran (und für morgen freue ich mich wieder auf den Schreibtisch):


 
     Prolog



Ich sitze hier am Schreibtisch
Und schreibe hier Gedichte,
Indem ich in die Tinte wisch
Und mein Gebet verrichte.

So gibt sich spiegelnd Vers an Vers
In ölgemalter Glätte,
Nur selten fragt man sich: Wie wär´s,
Wenn es mehr Seele hätte?

Die Seele tut mir garnich weh.
Sie ist ganz unbeteiligt.
Nackt liegt sie auf dem Kanapee
Und durch sich selbst geheiligt.

Des Abends geh ich mit ihr aus,
Im Knopfloch eine Dahlie.
Ich selber heiße Stanislaus,
Sie aber heißt Amalie.


Klabund (1890 - 1928)

Sonntag, 1. April 2012

Geschichten vom Transzendentalen Dachboden


Mein Klein Häuschen mit dem Apfelgarten drumherum, mit dem Gemüsegarten, den behaglichen Gehölzen, die es beschützen, mit den Feldhasen, Buchfinken, Grünspechten, Igeln, die es besuchen, mit den vielen kleinen gefundenen Dingen im inneren, dieses Klein Häuschen hat auch einen Dachboden. Dieser ist mit Holz ausgekleidet und gerade hoch genug, dass ich in der Mitte gerade stehen kann. Das Häuschen ist nach der Ost-West-Achse ausgerichtet, und der Dachboden hat in jeder dieser beiden Himmelsrichtungen jeweils ein Doppelfenster. Beim Ostfenster habe ich einige meiner Lieblingsdinge aufgestellt: Die große Pazifikmuschel, welche mir meine Eltern von einer Kreuzfahrt mitbrachten, meinen Seelenstein, ein fast dreieckiges Stück Flintstein mit dem Abdruck eines urzeitlichen See-Igels, all seine fünf Strahlen im Kreis; eine Glasmurmel, etwa vom Durchmesser einer Walnuss, eine gläserne Nachbildung unseres blauen Planeten; eine Bergkristallkugel mit Turmalineinschlüssen, Geschenk der Liebsten.

Hier sitze ich oft des morgens und schaue der Sonne beim Aufgehen zu. Dann kann ich auch eins ums andere Mal eines der Tiere sehen, welche den morgendlichen Garten durchstreifen. Manchmal brumme ich einige selbsterfundene Lieder vor mich hin - hier hört mich ja keiner.

Auch befinden sich meine Lieblingsbücher hier oben. Einige Selbstgeschriebene, doch auch die Bände, welche sich im Laufe eines langen Leselebens angesiedelt haben: Erich Kästners „Lyrische Hausapotheke“, Klabunds „Chinesische Gedichte“, die „Landschaften des Bewusstseins“ von Gary Snyder, dem amerikanischen Dichter der Schildkröteninsel, Luisa Francias „Die 13. Tür“, daneben Rezeptbücher, Gedichtbändchen, das eine und andere Philosophie- und Weisheitsbuch, Kräuter- und Gartenbücher, Kinderbücher, Märchen und Geschichten in bunter Reihenfolge.

Wenn es denn draußen vom Wetter her so schedderig ist, dass man den Garten Garten sein lassen möchte und sich nur noch in warem Wolldecken einmummeln, dann ist es soweit, dann wird sich eines der Bücher gegriffen, und gelesen. Heute war es einmal wieder die folgende Geschichte, eine rechte Dingefindergeschichte, wie ich finde:

 
Novalis - Die Lehrlinge zu Sais


Mannigfache Wege gehen die Menschen. Wer sie verfolgt und vergleicht, wird wunderliche Figuren entstehen sehn; Figuren, die zu jener großen Chiffernschrift zu gehören scheinen, die man überall, auf Flügeln, Eierschalen, in Wolken, im Schnee, in Kristallen und in Steinbildungen, auf gefrierenden Wassern, im Innern und Äußern der Gebirge, der Pflanzen, der Tiere, der Menschen, in den Lichtern des Himmels, auf berührten und gestrichenen Scheiben von Pech und Glas, in den Feilspänen um den Magnet her, und sonderbaren Konjunkturen des Zufalls, erblickt. In ihnen ahndet man den Schlüssel dieser Wunderschrift, die Sprachlehre derselben, allein die Ahndung will sich selbst in keine feste Formen fügen, und scheint kein höherer Schlüssel werden zu wollen. Ein Alkahest scheint über die Sinne der Menschen ausgegossen zu sein. Nur augenblicklich scheinen ihre Wünsche, ihre Gedanken sich zu verdichten. So entstehen ihre Ahndungen, aber nach kurzen Zeiten schwimmt alles wieder, wie vorher, vor ihren Blicken.


Von weitem hört ich sagen: die Unverständlichkeit sei Folge nur des Unverstandes; dieser suche, was er habe, und also niemals weiter finden könne. Man verstehe die Sprache nicht, weil sich die Sprache selber nicht verstehe, nicht verstehen wolle; die echte Sanskrit spräche, um zu sprechen, weil Sprechen ihre Lust und ihr Wesen sei.
Nicht lange darauf sprach einer: »Keiner Erklärung bedarf die heilige Schrift. Wer wahrhaft spricht, ist des ewigen Lebens voll, und wunderbar verwandt mit echten Geheimnissen dünkt uns seine Schrift, denn sie ist ein Akkord aus des Weltalls Symphonie.«
Von unserm Lehrer sprach gewiß die Stimme, denn er versteht die Züge zu versammeln, die überall zerstreut sind. Ein eignes Licht entzündet sich in seinen Blicken, wenn vor uns nun die hohe Rune liegt, und er in unsern Augen späht, ob auch in uns aufgegangen ist das Gestirn, das die Figur sichtbar und verständlich macht. Sieht er uns traurig, daß die Nacht nicht weicht, so tröstet er uns, und verheißt dem emsigen, treuen Seher künftiges Glück. Oft hat er uns erzählt, wie ihm als Kind der Trieb die Sinne zu üben, zu beschäftigen und zu erfüllen, keine Ruhe ließ. Den Sternen sah er zu und ahmte ihre Züge, ihre Stellungen im Sande nach. Ins Luftmeer sah er ohne Rast, und ward nicht müde seine Klarheit, seine Bewegungen, seine Wolken, seine Lichter zu betrachten. Er sammelte sich Steine, Blumen, Käfer aller Art, und legte sie auf mannigfache Weise sich in Reihen. Auf Menschen und auf Tiere gab er acht, am Strand des Meeres saß er, suchte Muscheln. Auf sein Gemüt und seine Gedanken lauschte er sorgsam. Er wußte nicht, wohin ihn seine Sehnsucht trieb. Wie er größer ward, strich er umher, besah sich andre Länder, andre Meere, neue Lüfte, fremde Sterne, unbekannte Pflanzen, Tiere, Menschen, stieg in Höhlen, sah wie in Bänken und in bunten Schichten der Erde Bau vollführt war, und drückte Ton in sonderbare Felsenbilder. Nun fand er überall Bekanntes wieder, nur wunderlich gemischt, gepaart, und also ordneten sich selbst in ihm oft seltsame Dinge. Er merkte bald auf die Verbindungen in allem, auf Begegnungen, Zusammentreffungen. Nun sah er bald nichts mehr allein. – In große bunte Bilder drängten sich die Wahrnehmungen seiner Sinne: er hörte, sah, tastete und dachte zugleich. Er freute sich, Fremdlinge zusammenzubringen. Bald waren ihm die Sterne Menschen, bald die Menschen Sterne, die Steine Tiere, die Wolken Pflanzen, er spielte mit den Kräften und Erscheinungen, er wußte wo und wie er dies und jenes finden, und erscheinen lassen konnte, und griff so selbst in den Saiten nach Tönen und Gängen umher.



Was nun seitdem aus ihm geworden ist, tut er nicht kund. Er sagt uns, daß wir selbst, von ihm und eigner Lust geführt, entdecken würden, was mit ihm vorgegangen sei. Mehrere von uns sind von ihm gewichen. Sie kehrten zu ihren Eltern zurück und lernten ein Gewerbe treiben. Einige sind von ihm ausgesendet worden, wir wissen nicht wohin; er suchte sie aus. Von ihnen waren einige nur kurze Zeit erst da, die andern länger. Eins war ein Kind noch, es war kaum da, so wollte er ihm den Unterricht übergeben. Es hatte große dunkle Augen mit himmelblauem Grunde, wie Lilien glänzte seine Haut, und seine Locken wie lichte Wölkchen, wenn der Abend kommt. Die Stimme drang uns allen durch das Herz, wir hätten gern ihm unsere Blumen, Steine, Federn alles gern geschenkt. Es lächelte unendlich ernst, und uns ward seltsam wohl mit ihm zumute. »Einst wird es wiederkommen«, sagte der Lehrer, »und unter uns wohnen, dann hören die Lehrstunden auf.« – Einen schickte er mit ihm fort, der hat uns oft gedauert. Immer traurig sah er aus, lange Jahre war er hier, ihm glückte nichts, er fand nicht leicht, wenn wir Kristalle suchten oder Blumen. In die Ferne sah er schlecht, bunte Reihen gut zu legen wußte er nicht. Er zerbrach alles so leicht. Doch hatte keiner einen solchen Trieb und solche Lust am Sehn und Hören. Seit einer Zeit, – vorher eh jenes Kind in unsern Kreis trat, – ward er auf einmal heiter und geschickt. Eines Tages war er traurig ausgegangen, er kam nicht wieder und die Nacht brach ein. Wir waren seinetwegen sehr in Sorgen; auf einmal, wie des Morgens Dämmerung kam, hörten wir in einem nahen Haine seine Stimme. Er sang ein hohes, frohes Lied; wir wunderten uns alle; der Lehrer sah mit einem Blick nach Morgen, wie ich ihn wohl nie wieder sehen werde. In unsre Mitte trat er bald, und brachte, mit unaussprechlicher Seligkeit im Antlitz, ein unscheinbares Steinchen von seltsamer Gestalt. Der Lehrer nahm es in die Hand, und küßte ihn lange, dann sah er uns mit nassen Augen an und legte dieses Steinchen auf einen leeren Platz, der mitten unter andern Steinen lag, gerade wo wie Strahlen viele Reihen sich berührten.


Ich werde dieser Augenblicke nie fortan vergessen. Uns war, als hätten wir im Vorübergehn eine helle Ahndung dieser wunderbaren Welt in unsern Seelen gehabt.











Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen,
Wenn die, so singen oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt ins freie Leben,
Und in die Welt wird zurück begeben,
Wenn sich wieder Licht und Schatten
Zu echter Klarheit werden gatten,
Und man in Märchen und Gedichten
Erkennt die ew´gen Weltgeschichten,
Dann fliegt vor einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.
Novalis (1772  -  1801)