Sonntag, 6. Oktober 2013

Auf dem Kopf

Spiegelwelt


"Der Weise träumt´,
 er wär ein  Schmetterling,
 oder, träumt
 ein  Schmetterling den Weisen?"

 Li Tai Pe

Es gibt im Tarot eine Karte aus dem großen Arkana, die auf mich einigermaßen irritierend wirkt: "Der Gehängte". Da ist jemand an einem T-Balken an einem Fuß über Kopf aufgehängt. Das ähnelt dem ans Kreuz geschlagenem, und steht doch auf dem Kopf: Denn dieser Gehängte leidet nicht, er hat das zweite, freie Bein ganz lässig über das andere geschlagen und schaut recht entspannt in die Welt hinein. Über Kopf scheint die Leidenswelt eine andere zu sein, und man darf alles etwas "cooler" sehen.

Wenn ich erst einmal damit beginne, die Welt "über Kopf" zu sehen, die Schemata einfach umdrehe, dann habe ich schnell Spaß am denken. Denn das lässt sich auf viele Gebiete anwenden. Schon als Jugendlicher dachte ich über Schmetterlinge nach. Sie wurden in einigen Büchern "das Vollinsekt" bezeichnet, im Gegensatz zu Larve, Raupe, Puppe. Doch über Kopf betrachtet ist die längste Lebenszeit dieses Tier eine Raupe. Der Schmetterling, der entschlüpft, ist zur Freude der Erotik geschaffen, labt sich an Nektar, wenn er überhaupt etwas zu sich nimmt, und nicht, wie einige nur von Luft und Liebe lebt; Schmetterlinge lutschen Süßes und berauschen sich an Pheromonen, umgaukeln die Partnerinnen und die Blüten und vergehen. So gesehen ist die Raupe wohl das Vollinsekt, das sich im Vergehen noch einmal in den fliegenden Eros in seiner bunten Pracht verwandelt.

Im Verhältnis Mann und Frau oder männlich und weiblich lässt sich sicher einiges auf den Kopf stellen, um zu erstaunlichen Resultaten zu kommen. Es gibt eine Art männlichen Blick auf die Welt, der das "Auf-den-Kopf-stellen" in historischer Zeit mächtig vorangetrieben hat, so dass der Blick auf die Welt heute ein männlicher ist. Doch wer dressiert hier wen? Hat der Hund Pawlow nicht so lange dressiert, bis der nur noch in Reiz-Reaktions-Schemata denken konnte, wenn er die Glocke klingen hörte, und nicht mehr an lebendige Wesen? Dass daraus ein irriges Erziehungswesen erwachsen konnte, liegt auf der Hand.

Nun soll ja der keulenschwingende Steinzeitmann die Frau an den Haaren in seine tumbe Höhle gezogen haben. Und: Beweise für dieses männliche Eroberervorgehen in Sachen Fortpflanzung gäbe es in der Fauna zuhauf. Nun, bei den Wölfen, so las ich, sieht es in etwa so aus: Zwar kämpfen zwei Wölfe miteinander, doch nicht, wie männliche Forscher meinen, um die Frau, sondern vor der Frau. Die Wolfsfrau hat durchaus die Wahl und schaut sich das Geschehen an und zieht auch schon einmal mit einem vermeindlichen Verlierer davon. (Entschuldigt, dass ich das aus dem Kopf, der auch noch verkehrt herum hängt, zitieren muss, ich hatte es einmal flüchtig in einer Zeitschrift gelesen, dass es sich so verhalte, weiß aber nicht mehr wo. . .)

Auch bei meiner kleinen Ziegenherde, die in den Achtzigern begleitete konnte ich ähnliches beobachten. Nicht der Bock war das Leittier, er hatte nur die imposanteren Hörner, es gab immer eine Leitziege, da wurden teilweise auch harte Scharmützel drum ausgetragen, und diese hatte das Wohl der ganzen Gruppe im Auge. Sie war es denn zum Beispiel auch, die, als etwas Unheimliches auf der üblichen Weidefläche, ein Gebüschland hinter den Weiden, wo wir die Ziegen für einige Zeit am Tage hinschickten, zurückkam und uns umtanzte und andeutete, dass doch bitte ein Mensch mitkommen möge. Oben standen dann die Ziegen inklusive Bock in einer Reihe, aufmerksam schnuppernd und schauend, und erst als der Mensch dabei war, verteilten sie sich im Buschland zum äsen.

Eine Stereotype in der Bezeichnung unserer Vorfahren und Ahninnen taucht immer wieder auf: Das wären Jäger- und Sammlervölker gewesen. Bei genauer Betrachtung zeigt sich nun: Es waren Sammlerinnen- und Jägervölker gewesen. Der zumeist größte Anteil der Ernährung wurde ersammelt und war pflanzlicher Natur. Hier ist die Reihenfolge wahrlich auf den Kopf gestellt worden. Nur unter Extremsituationen, wie sie zum Beispiel in der Eiszeit im Norden herrschten, war die Fleischnahrung vorherrschend. Wenn das Klima wieder günstiger wurde, verschob sich in den meisten Fällen das Verhältnis wieder zugunsten pflanzlicher Nahrung. 

Das der Ursprung unserer Kultur im Garten- und Ackerbau liege, dass das Wort "Kultur" sogar hier seinen Ursprung hat, stellt den Bauern in den Fokus der Kulturentwicklung. Mit dem Bauern sollte alles angefangen haben. Doch bei Lichte betrachtet sind zum Beispiel die "Bauerngärten" keine Bauerngärten, sondern Bäuerinnengärten. Bauern hat die Felder zu bewirtschaften um Überschüsse zu erzielen. Die Bäuerinnen hatten den "Krautgarten" unter sich, wo der Mann allenfalls das anstrengende Umgraben im  Frühjahr übernehmen durfte. Diese Gärten waren, im Gegensatz zu den Feldern, eine Art Privatbesitz der Bäuerin, und aus diesen Gärten erfolgte der größte Teil der Selbstversorgung der Hofstätten. Etwas davon spiegelt sich noch in den Zahlen zur Gemüseproduktion in der ehemaligen Sowjetunion, wo das meiste des im Inland verzehrten Gemüses aus diesen Privatgärten kam.

Da die Sammlerinnen diejenigen waren, welche sich um die pflanzliche Kost kümmerten, liefen ihnen auch die Pflanzen nach. "Kürbisblüten auf dem Abfallhaufen / Anfang der Gärten", so lapidar beschrieb der amerikanische Dichter Gary Snyder die Wiege der Kultur. Frauengedöns. Es lag doch auf der Hand, sich der Pflanzen anzunehmen, die förmlich dem Menschen nachliefen, um sie um die Wohnstätten herum zu züchten. Die ältesten Kulturformen lassen sich von Chili nachweisen, und das ist beileibe kein Grundnahrungsmittel, sondern eine Gewürz-  und Heilpflanze. Es ist gut, einmal zwischen Gartenbau und Ackerbau zu unterscheiden. Denn ersterer ist die Wiege unserer Kultur, und diese Wiege steht in einem weiblichen Garten, einem Paradiesgarten, den es zu bebauen und bewahren gilt. 

So konnten die Frauen es ermöglichen, sesshaft zu werden: Sie hüteten die Gärten und sie hüteten das Feuer, das ermöglichte, dass viel mehr pflanzliche Nahrung aufgeschlossen werden konnte für den Verzehr. Sie waren diejenigen welche die ersten Töpfe brannten, und damit zum Beispiel die Kultur der Bandkeramikerinnen schafften. Und sie werden wohl auch als erste das Schmelzen von merkwürdigen Erzgesteinen im Feuer beobachtet haben. Die Männer liefen ja draußen herum und jagten. . .

So entwickelte sich mehr und mehr ein drinnen und ein draußen, die Frauen entwickelten matriarchalische Dörfer und Städte, schafften mehr und mehr umhegte behagliche Innenräume (auch das Wort "Garten" kommt von der Gerte, der mit einer Gertenhecke, dem Hag, geschützte Raum), erzogen die Kinder zu redegewandten Menschen, welche es als gutes Werk ansahen, in der Gemeinschaft zu wirken. 

Was schufen die Männer mit ihrem Außen? Sie begannen, immer größere Tiere zu jagen, vielleicht aus der Not heraus, vielleicht auch aus anderen Gründen. Auch ihnen half das Feuer, Fleisch von diesen Tieren überhaupt zu verdauen. Als Braten, als Schmorfleisch. Und sie begannen, ihre Waffen, die sie schließlich nicht mehr nur gegen die Tiere anwendeten, sondern auch gegen Artgenossen, zu verfeinern. Wieder mithilfe des Feuers. Erst wurden Kupfer und Zinn verhüttet, dann Eisen. Das ist nun wesentlich energieintensiver als das Kochen von Nahrung und Heilmitteln auf einer Feuerstelle. Sammlerinnen brauchten für das Holzfeuer keine Bäume zu fällen, sie bedienten sich am Sammelholz aus den Wäldern. (Und senkten damit gleichzeitig die Waldbrandgefahr in den Wohngebieten der Menschen).

Das Fällen von Bäumen zur Brennholzgewinnung für die Verhüttung und später zum Bau von Kriegsschiffen hatte Folgen. Die wichtigste Sammelfrucht, die Eichel, welche durch Wässern und Mahlen zu einem stärke- und fettreichen Grundnahrungsmittel verarbeitet wurde, stand nicht mehr zur Verfügung. Das Außen, das Gebiet, welches die Männer . . .  eben nicht bebauten und bewahrten, wurde Zusehens mehr Steppe und Wüste. So begannen die Menschen das zu nehmen, was blieb, die dürftigen Samen der Steppengräser. Daraus entwickelte sich das Getreide und der Beruf des Bauern. Der Bauer ist, anders als die Gärtnerin, immer in einem Hierarchie- und Ständewesen eingebunden. Das ist die männliche Art des Organisierens von Gemeinwesens. Diese hat immer die schlimmen Auswirkungen auf die Mitwelt, welche wir heutigen jetzt in aller Schärfe erleben.

Das wäre einmal die Sicht der Dinge, die Sicht auf eine kulturelle Entwicklung, aus der Sicht eines auf den Kopf gestellten, beziehungsweise gehängten. Der Gehängte soll einen Weisen, einen Wissenden, einen Erwachten darstellen. Cool!


Nächstens mehr. .  .





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