Samstag, 5. Januar 2013

Wann und warum ich mein erstes Gedicht schrieb



Der Dingefinder liest (Foto Frederike Herrlich)


Fünfzehn war ich. Mit großer Erwartung stand ich am Ausgabetresen der Stadtbibliothek, in der Hoffnung, das Buch in Empfang zu nehmen, auf welches ich so lange gewartet hatte. Jede Woche wieder, am Dienstag, stand ich vor diesem Tresen und fragte nach. Fast jedesmal war mein Name auf der Warteliste weiter nach oben gestiegen, aber jedesmal noch nicht bis an die Spitze.

Heute aber musste es so weit sein. Ich konnte das Buch auf dem Ausgabewagen hinter dem Tresen liegen sehen. Ein gebundener Wälzer, groß und dick. Ich wusste nicht, warum es gerade dieses Buch sein sollte, ich kann mich auch heute nicht mehr daran erinnern, was mich dazu brachte, ausgerechnet in dieses Buch so viele Erwartungen zu legen. Es stellt sich bei mir keine Erinnerung daran ein, was mich dazu brachte, dieses Buch überhaupt wahrzunehmen und in die Reihe der begehrenswerten Bücher einzugliedern. Meine wichtigsten und Lieblingsbücher bis dato waren Jack Londons „Abenteurer des Schienenstranges“ und von Anna Jürgens „Blauvogel - Wahlsohn der Irokesen“. Mithin noch der Jugendliteratur zuzurechnen, während das neue Objekt meiner Lesebegierde nunmehr ein Erwachsenenbuch war.

Dieser Fakt wurde mir denn auch deutlich mitgeteilt, als die Bibliothekarin an den Tresen trat und meinen Bibliotheksausweis verlangte, um mein Aushändigungsersuchen des mir so wichtigen Werkes fachgerecht abzuhandeln. „Oh!“, sagte sie mit Blick auf den Ausweis, „du bist erst fünfzehn. Das Buch ist erst ab sechzehn zugelassen!“

Es muss wohl mein Blick gewesen sein, der Blick eines Menschen, der jede Hoffnung fahren ließ, und dessen Augen von einem Moment zum nächsten von Trauer überschattet waren, von Zorn, von längst überwunden geglaubter Kinderhilflosigkeit. All das musste der Bibliothekscerberus in Gestalt eines Rüschenengels mit an den Hinterkopf genagelten Haardutt in meinen Augen gesehen haben. Ich stand vor ihr wie ein trauriges Gespenst, und sie bekam Mitleid mit mir und händigte mir das Buch aus mit den Worten: „Na gut, du bist ja bald sechzehn, und du hast ja so lange darauf gewartet!“

Das Buch war die „Blechtrommel“ von Günter Grass, und ich gestehe, ich habe es nie in meinem Leben zu Ende gelesen. Ich bin nie in das letzte Drittel vorgedrungen, es langweilte mich mehr und mehr.

Aber die verzweifelte Liebesgeschichte zwischen dem kleinwüchsigen Oskar und der Marie, die hatte mich gepackt, oh, dies Verlassensein kannte ich, auch ich spürte all das elegische Leiden des kleinen Oskars in mir, fand es in mir wieder. Da schrieb einer, was ich empfand, mit Worten, die mich berührten. Auch ich hatte geliebt in aller Inbrunst, zu der ich, erwachend, fähig war, auch ich war der Verlassene. Es eröffnete sich mir die Möglichkeit, mein eigenes Liebesleid anzunehmen und mein allererstes Gedicht zu schreiben. Es trug den Titel „Maria“.

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