Freitag, 20. Januar 2012

Nachtangeln

Nachtangeln


Als mein Freund und ich vierzehn Jahre alt waren, durften wir zum ersten Male in unserem Leben ohne Erwachsene eine ganze Nacht an der Geeste, einem Fluss, der durch Bremerhaven fließt, verbringen. Wir durften Nachtangeln.

Die Nacht war sternklar und kühl. Wir saßen am Ufer des Flusses, die Angeln waren Beiwerk und vorgeschobener Grund für ein Nachtabenteuer.

Vierzehnjährige haben ihre eigene Art, die Welt zu betrachten und eine Nacht am Fluss ist durchaus der geeignete Rahmen, um ins Philosophieren zu geraten. So eine raffiniert naive Logik der Weltbetrachtung haben wir vielleicht nur in diesem Alter. Und nur in diesem Alter den Mut und die Zeit, sich Gedanken zu machen über so etwas Grandioses wie die Unendlichkeit der Welt.

Für Erwachsene wird solch ein Gedankenwerk als überflüssige Aktivität erachtet. Nicht nur für Erwachsene, mir erging es schon als junger Heranwachsender so, dass Ambitionen, die über das „Normale“ hinausgingen, kritisch betrachtet wurden. Als einem, der erwachsen werden will, nicht würdig.

Wir waren also vierzehn Jahre alt, die Nacht wurde kühler, kein Fisch biss. So gerieten wir ins Erzählen und ins Philosophieren. Durch die Weite des Sternenhimmels animiert, durch die ungewohnte nächtliche Aktivität aufgekratzt und trotz Müdigkeit überwach, stellten wir uns die Frage (stellten wir uns der Frage), wo das denn alles endet. Und wo und wie es dahinter weiter gehen würde, wenn es denn endet.

Wir dachten im Kreis. Wenn es enden würde, dann gäbe es eine Grenze. Wenn es eine Grenze gäbe, dann ginge es dahinter weiter. Wenn es keine Grenze gäbe, dann wäre das Ganze unendlich. Dass es unendlich sei: Unvorstellbar. Unendlichkeit ließ sich nicht „erfühlen“. Dass es nicht unendlich sei, genauso unvorstellbar. Uns war ganz schwindelig.

Wir begannen uns damit anzufreunden, dass es „irgendwie unendlich“ sei. Etwas anderes war nicht möglich. Hoimar von Ditfurth beschreibt das Weltall als endlich und in sich gekrümmt. Aber das wussten wir damals noch nicht. Und ein in sich gekrümmtes endlich riesengroßes Weltall hätten wir auch nicht akzeptiert. Die Krümmung wäre auch nichts anderes als eine Grenze. Und dahinter...?

Anstatt uns weiter diesem Gefühl auszusetzen, einem nichtfassbaren unendlichen Universum anzugehören, unendlich und unfassbar in seiner räumlichen Ausdehnung, und genauso unendlich und unfassbar in seinen zeitlichen Abläufen, statt also sich diesem gefühlsmäßig nicht zu Erfassendem auszusetzen, begannen wir damit, uns Gedanken darüber zu machen, welche Konsequenzen eine Unendlichkeit in Zeit und Raum hätte.

Unendlichkeit im Raum: das ist schon sehr speziell. Also nach oben geht es weiter, immer weiter. Und nach unten geht es weiter, immer weiter. Und nach rechts geht es weiter, immer weiter. Nach links, nach vorne, nach hinten: immer weiter, immer weiter. Gekrümmt oder nicht, Kugel, Elipsoid oder sonst was, hinter den Grenzen: weiter, weiter - immer wieder wurden unsere Gedanken und Gespräche von merkwürdigen Schauern unterbrochen.

In der Luft war ein hohes, kaum hörbares Pfeifen, in einer Frequenz, die gerade an der Wahrnehmungsschwelle tönte, als wenn man die tiefsten Töne der Fledermäuse wahrnimmt, die man gerade eben noch hört. Nicht wirklich da, doch fühlbar seiend. Die weiter entfernten Straßenlaternen leuchteten und trugen alle einen kobaltblauen Halo. Unsre Wahrnehmung war klar und uns war etwas unheimlich. Und wir hatten den Mut, es uns zuzugestehen.

Uns war seltsam unheimlich und seltsam euphorisch, beides. Zum Glück biss kein Fisch an und holte uns in die Zweckmäßigkeiten dieser Welt zurück.

Unendlichkeit im Raum: Die für uns verblüffendste Konsequenz war die Erfahrung, dass das Weltall, wenn es denn unendlich wäre (und was anderes wäre nicht denkbar), eine urdemokratische und gerechte Veranstaltung ist. Wenn es sich nach allen Seiten in die Länge und in die Quere und in Höhe, Breite, Tiefe, unendlich weit ausdehnte, dann, ja dann gibt es keinen Rand. Dann gibt es nur „Mitten“. Eine unendlich große Anzahl von „Mitten“. Du bist der Mittelpunkt der Welt. Ich bin der Mittelpunkt der Welt. Dort ist der Mittelpunkt der Welt. Hier ist der Mittelpunkt der Welt. Ich Mitte. Du Mitte. Er, sie, es Mitte.

Also entweder unendlich oder nicht. Wenn unendlich (und was anderes ist nicht denkbar), dann sind wir alle der Mittelpunkt der Welt.

Wir beide schauten uns an und lachten und beglückwünschten uns gegenseitig: Grüß Dich, Du Mittelpunkt aller Dinge! Sei gegrüßt, Mitte der Welt. Du Mitte, ich Mitte. Ab durch die Mitte. Beseelt waren wir von dieser Erkenntnis.

Aber wenn das alles unendlich ist, nach vorne und nach hinten, wenn „hinter uns“ unendlich lange Zeiträume liegen, dann ...
Ja dann gibt es uns alle unendlich oft. Selbst wenn die Wahrscheinlichkeit unendlich klein ist, dass es uns beide hier sitzend beim Nachtangeln ein zweites Mal gibt, dann gibt es uns ein zweites Mal. Denn selbst eine unendlich kleine Wahrscheinlichkeit ist unendlich oft passiert. Und alle Alternativen auch.

Also: Ob wir heut in der Nacht einen Fisch fangen, oder viele Fische fangen, oder gar keinen, oder ob du ins Wasser fällst oder ich und so weiter. . .  Alles schon unendlich oft mal passiert. Genauso wie jede der unendlich vielen Variationen. Entweder unendlich oder nicht. Wenn unendlich (und was anderes ist nicht denkbar), dann haben wir alles schon unendlich oft Mal erlebt. Daher also kommen die Déjà-vu-Erlebnisse!

Und wer gerne in Atlantis gewohnt haben möchte als Prinzessin oder Hohepriester, der oder die haben unendlich oft Mal in Atlantis gelebt, wer reinkarniert werden möchte, wird reinkarniert, und das alles so oft ein jeder möchte und noch viel mehr. Eben unendlich oft Mal. Und wer lieber vom Affen abstammt, stammt unendlich oft Mal vom Affen ab. Und jede, und jeder ist der Mittelpunkt der Welt. Wie schön, dass die Welt unendlich ist!

Wir redeten und redeten, über das, was wir entdeckt hatten, beseelt und glücklich. Heute ging es uns so, morgen so. Aber woanders gab es uns, und es ging uns ganz anders. Und woanders gab es Welten, da hatten nicht die Weißen Amerika entdeckt, sondern die Rothäute jenen Wurmfortsatz von Asien, der sich Europa nennt. Und sie brachten Friedenspfeifen und lustige Geschichten mit.

Als wir am nächsten Morgen nach Hause kamen, waren wir sehr fröhlich. Die spöttischen Bemerkungen unserer Väter ob der Größe unseres Fanges perlten an uns ab. Denn unendlich oft hatten wir unendlich viel gefangen. Nur heute nicht.






2 Kommentare:

  1. Ob es am Hang der Angler zur Natur liegt? Oder einfach am Bestrebend er Jugend, diese Welt zu begreifen? Dieses Dasein richtig zu spüren? Weitreichend sind Jörgs philosophische Betrachtungen über die Endlichkeit des Seins, die endliche Unendlichkleit des Universums und die Frage: Wo steht der Fisch? allemal. Und sie regen zum Nachdenken an. Ich erinnere mich, dass ich in dem Alter nicht nur selber Angeln ging, sondern auch Perry Rhodan las. Wasser und All, Allwasser und alles, was daran, darauf und darin ist. Welch phantastische Möglichkeiten, sich auf Pegasus' Rücken zu schwingen und mit ihm davonzufliegen in das Reich der Fantasie...

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  2. Perry Rhodan haben wir damals auch gelesen. Und sicherlich nicht nur über das All und die Unendlichkeit philosophiert. Doch die Stunden in der Natur sind mir unvergessen. Jetzt ist mein Sohn zwölf Jahre alt. Es ist an der Zeit, dass ich mit ihm Nachtangeln gehe. :-)

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