Nachtangeln
Als
mein Freund und ich vierzehn Jahre alt waren, durften wir zum ersten
Male in unserem Leben ohne Erwachsene eine ganze Nacht an der Geeste,
einem Fluss, der durch Bremerhaven fließt, verbringen. Wir durften
Nachtangeln.
Die
Nacht war sternklar und kühl. Wir saßen am Ufer des Flusses, die
Angeln waren Beiwerk und vorgeschobener Grund für ein
Nachtabenteuer.
Vierzehnjährige
haben ihre eigene Art, die Welt zu betrachten und eine Nacht am Fluss
ist durchaus der geeignete Rahmen, um ins Philosophieren zu geraten.
So eine raffiniert naive Logik der Weltbetrachtung haben wir
vielleicht nur in diesem Alter. Und nur in diesem Alter den Mut und
die Zeit, sich Gedanken zu machen über so etwas Grandioses wie die
Unendlichkeit der Welt.
Für
Erwachsene wird solch ein Gedankenwerk als überflüssige Aktivität
erachtet. Nicht nur für Erwachsene, mir erging es schon als junger
Heranwachsender so, dass Ambitionen, die über das „Normale“
hinausgingen, kritisch betrachtet wurden. Als einem, der erwachsen
werden will, nicht würdig.
Wir
waren also vierzehn Jahre alt, die Nacht wurde kühler, kein Fisch
biss. So gerieten wir ins Erzählen und ins Philosophieren. Durch die
Weite des Sternenhimmels animiert, durch die ungewohnte nächtliche
Aktivität aufgekratzt und trotz Müdigkeit überwach, stellten wir
uns die Frage (stellten wir uns der Frage), wo das denn alles endet.
Und wo und wie es dahinter weiter gehen würde, wenn es denn endet.
Wir
dachten im Kreis. Wenn es enden würde, dann gäbe es eine Grenze.
Wenn es eine Grenze gäbe, dann ginge es dahinter weiter. Wenn es
keine Grenze gäbe, dann wäre das Ganze unendlich. Dass es unendlich
sei: Unvorstellbar. Unendlichkeit ließ sich nicht „erfühlen“.
Dass es nicht unendlich sei, genauso unvorstellbar. Uns war ganz
schwindelig.
Wir
begannen uns damit anzufreunden, dass es „irgendwie unendlich“
sei. Etwas anderes war nicht möglich. Hoimar von Ditfurth beschreibt
das Weltall als endlich und in sich gekrümmt. Aber das wussten wir
damals noch nicht. Und ein in sich gekrümmtes endlich riesengroßes
Weltall hätten wir auch nicht akzeptiert. Die Krümmung wäre auch
nichts anderes als eine Grenze. Und dahinter...?
Anstatt
uns weiter diesem Gefühl auszusetzen, einem nichtfassbaren
unendlichen Universum anzugehören, unendlich und unfassbar in seiner
räumlichen Ausdehnung, und genauso unendlich und unfassbar in seinen
zeitlichen Abläufen, statt also sich diesem gefühlsmäßig nicht zu Erfassendem auszusetzen, begannen wir damit, uns Gedanken darüber zu
machen, welche Konsequenzen eine Unendlichkeit in Zeit und Raum
hätte.
Unendlichkeit
im Raum: das ist schon sehr speziell. Also nach oben geht es weiter,
immer weiter. Und nach unten geht es weiter, immer weiter. Und nach
rechts geht es weiter, immer weiter. Nach links, nach vorne, nach
hinten: immer weiter, immer weiter. Gekrümmt oder nicht, Kugel,
Elipsoid oder sonst was, hinter den Grenzen: weiter, weiter - immer
wieder wurden unsere Gedanken und Gespräche von merkwürdigen
Schauern unterbrochen.
In
der Luft war ein hohes, kaum hörbares Pfeifen, in einer Frequenz,
die gerade an der Wahrnehmungsschwelle tönte, als wenn man die
tiefsten Töne der Fledermäuse wahrnimmt, die man gerade eben noch
hört. Nicht wirklich da, doch fühlbar seiend. Die weiter entfernten
Straßenlaternen leuchteten und trugen alle einen kobaltblauen Halo.
Unsre Wahrnehmung war klar und uns war etwas unheimlich. Und wir
hatten den Mut, es uns zuzugestehen.
Uns
war seltsam unheimlich und seltsam euphorisch, beides. Zum Glück
biss kein Fisch an und holte uns in die Zweckmäßigkeiten dieser
Welt zurück.
Unendlichkeit
im Raum: Die für uns verblüffendste Konsequenz war die Erfahrung,
dass das Weltall, wenn es denn unendlich wäre (und was anderes wäre
nicht denkbar), eine urdemokratische und gerechte Veranstaltung ist.
Wenn es sich nach allen Seiten in die Länge und in die Quere und in
Höhe, Breite, Tiefe, unendlich weit ausdehnte, dann, ja dann gibt es
keinen Rand. Dann gibt es nur „Mitten“. Eine unendlich große
Anzahl von „Mitten“. Du bist der Mittelpunkt der Welt. Ich bin
der Mittelpunkt der Welt. Dort ist der Mittelpunkt der Welt. Hier ist
der Mittelpunkt der Welt. Ich Mitte. Du Mitte. Er, sie, es Mitte.
Also
entweder unendlich oder nicht. Wenn unendlich (und was anderes ist
nicht denkbar), dann sind wir alle der Mittelpunkt der Welt.
Wir
beide schauten uns an und lachten und beglückwünschten uns
gegenseitig: Grüß Dich, Du Mittelpunkt aller Dinge! Sei gegrüßt,
Mitte der Welt. Du Mitte, ich Mitte. Ab durch die Mitte. Beseelt
waren wir von dieser Erkenntnis.
Aber
wenn das alles unendlich ist, nach vorne und nach hinten, wenn
„hinter uns“ unendlich lange Zeiträume liegen, dann ...
Ja
dann gibt es uns alle unendlich oft. Selbst wenn die
Wahrscheinlichkeit unendlich klein ist, dass es uns beide hier
sitzend beim Nachtangeln ein zweites Mal gibt, dann gibt es uns ein
zweites Mal. Denn selbst eine unendlich kleine Wahrscheinlichkeit ist
unendlich oft passiert. Und alle Alternativen auch.
Also: Ob wir heut in der Nacht einen Fisch fangen, oder viele Fische
fangen, oder gar keinen, oder ob du ins Wasser fällst oder ich und
so weiter. . . Alles schon unendlich oft mal passiert. Genauso wie jede
der unendlich vielen Variationen. Entweder unendlich oder nicht. Wenn
unendlich (und was anderes ist nicht denkbar), dann haben wir alles
schon unendlich oft Mal erlebt. Daher also kommen die
Déjà-vu-Erlebnisse!
Und
wer gerne in Atlantis gewohnt haben möchte als Prinzessin oder
Hohepriester, der oder die haben unendlich oft Mal in Atlantis
gelebt, wer reinkarniert werden möchte, wird reinkarniert, und das
alles so oft ein jeder möchte und noch viel mehr. Eben unendlich oft
Mal. Und wer lieber vom Affen abstammt, stammt unendlich oft Mal vom
Affen ab. Und jede, und jeder ist der Mittelpunkt der Welt. Wie
schön, dass die Welt unendlich ist!
Wir
redeten und redeten, über das, was wir entdeckt hatten, beseelt und
glücklich. Heute ging es uns so, morgen so. Aber woanders gab es
uns, und es ging uns ganz anders. Und woanders gab es Welten, da
hatten nicht die Weißen Amerika entdeckt, sondern die Rothäute
jenen Wurmfortsatz von Asien, der sich Europa nennt. Und sie brachten
Friedenspfeifen und lustige Geschichten mit.
Als
wir am nächsten Morgen nach Hause kamen, waren wir sehr fröhlich.
Die spöttischen Bemerkungen unserer Väter ob der Größe unseres
Fanges perlten an uns ab. Denn unendlich oft hatten wir unendlich
viel gefangen. Nur heute nicht.
Ob es am Hang der Angler zur Natur liegt? Oder einfach am Bestrebend er Jugend, diese Welt zu begreifen? Dieses Dasein richtig zu spüren? Weitreichend sind Jörgs philosophische Betrachtungen über die Endlichkeit des Seins, die endliche Unendlichkleit des Universums und die Frage: Wo steht der Fisch? allemal. Und sie regen zum Nachdenken an. Ich erinnere mich, dass ich in dem Alter nicht nur selber Angeln ging, sondern auch Perry Rhodan las. Wasser und All, Allwasser und alles, was daran, darauf und darin ist. Welch phantastische Möglichkeiten, sich auf Pegasus' Rücken zu schwingen und mit ihm davonzufliegen in das Reich der Fantasie...
AntwortenLöschenPerry Rhodan haben wir damals auch gelesen. Und sicherlich nicht nur über das All und die Unendlichkeit philosophiert. Doch die Stunden in der Natur sind mir unvergessen. Jetzt ist mein Sohn zwölf Jahre alt. Es ist an der Zeit, dass ich mit ihm Nachtangeln gehe. :-)
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