das man nicht behandeln darf"
Laotse, Tao Te King (In der Übersetzung von Richard Wilhelm)
"Ich habe einen Fehler gemacht." "Ich hätte nicht." "Es war falsch, mich darauf einzulassen." Ich möchte solchen Sätzen nicht mit der Häme begegnen: "Nachher ist jeder klug". Gerade im Zusammensein mit Menschen, am intensivsten in einer Liebesbeziehung, sind oft schon nach kurzer Zeit solche Worte gegeben.
Eines meiner Schulbücher, das für den Gemeinschaftskundeunterricht, hatte den Titel: "Sehen - Beurteilen - Handeln". Es erklärte uns Schülerinnen und Schülern das Leben in Staat und Welt nach dem damaligen Stand des Wissens. Sicherlich waren die Erklärungen auf ihre Art auch staatstragend, das ist jedoch nur die eine Seite der Dinge.
"Sehen": Die Dinge wahrnehmen. Das Sehen ist der zielgerichtetste unserer Sinne, oft verengen wir die Augen zu einem Schlitz, um besser sehen zu können, um auf ein Ding zu fokussieren. Um die Wegweiser zu erkennen, die geschriebenen Buchstaben. Mit diesem Scheinwerferblick schon selektieren wir die Dinge, dass, was im Fokus gerät, wird wahrgenommen.
Wir haben noch ein anderes Wort für die Tätigkeit des Augensinnes: "Schauen". Schauen impliziert den "weichen Blick", die Weite in der Weltansicht, das "Die Dinge geschehen lassen". "Schauen" ist eher ein Wahrgeben denn ein Wahrnehmen.
"Lautloses Jagen heißt, im Unterholz
oder irgendwo Stellung zu beziehen und regungslos zu verharren; dann
fangen die Dinge an, lebendig zu werden, und sehr bald wird man die
Eichhörnchen und die Sperlinge und die Waschbären und die Kaninchen
sehen, die schon die ganze Zeit da waren, aber sich eben sehr schnell
aus dem Staub machen, wenn man zu genau hinschaut. Meditation ist
genauso. Sich hinsetzen und ruhig sein und sich nicht bewegen, und
die Dinge im Kopf fangen an, aus ihren Löchern zu kriechen, fangen
an, herumzulaufen und zu singen usw., und wenn man das einfach
zulässt, kommt man in Berührung damit."
Aus:
„Landschaften des Bewusstseins: Craft Interview“ von Gary Snyder
"Beurteilen": Aus dem Sehen, dem Fokussieren und dem damit einher gehenden Analysieren des Vergangenem ergibt sich das Beurteilen. Oft und schnell meint es ein Verurteilen, in den beiden sich so nahen Worten steckt das "Urteil" schon drin. Hier wird schon das Wort zum Handeln. Ein Urteil gibt die Richtung vor. Doch lässt sich eine frühere Gegenwart nach der jetzigen Gegenwart "beurteilen"?
Wenn mein Herz gesprochen hat, wenn ich etwas angenommen habe, welches meinem Herzen ganz als das "Richtige" war, da zur Gegenwart passend, warum denn soll ich von einer anderen, späteren Gegenwart aus dieses "Richtige" verurteilen? Ich nehme mir damit so viel Vertrauen in mein Fühlen, ich unterhöhle mein Geborgensein in die Welt. Dass meine jetzige Gegenwart eine andere ist: Ja. Das Leben ist ein Fluss, und niemand steigt zweimal in denselben. Plattitüden, oft wiederholt, und kaum ein Weisheitskalender, der diesen Spruch nicht führte. So leicht auszusprechen, so schwer zu ergründen.
Das was geschah, geschah zu einem rechten Ort in einer rechten Zeit. Was jetzt ist, geschieht mir hier, und es kann mir nur hier und jetzt geschehen. Wenn das Herz spricht, braucht es kein Urteil. "Heut würde ich es anders machen". Ja, aber heut stellt sich mir die damalige Situation nicht. Ich kann all mein Erlebtes abspeichern, was die Festplatte hergibt, um statistische Daten zur Weltbeurteilung zu gewinnen. Um "beurteilen" zu können.
Doch ich kann mein Herz auch in jedem Augenblick dem Augenblicke öffnen und die Dinge selbst sprechen lassen.
"Handeln" - Wenn das Urteil "gefällt" (sic!) ist, dann werde ich befähigt zu Handeln. Ist das so? Das obige Eingangsmotto von Laotse wird folgendermaßen weiter geführt: "Wer sie behandelt, verdirbt sie, wer sie festhalten will, verliert sie". Wenn ein Vogel überall die richtigen Zweige sieht, die Flaumfdern, fluffigen Samen, das weiche Moos, wenn sein weiter Blick sich auf diese Dinge richtet, dann ist es Zeit für ihn, ein Nest zu bauen. Und noch einmal Laotse: "Woher weiß ich von den Dingen? Eben durch sie."
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