Die Zeit der kleinen Dinge
„Deutest die Zeichen
in Dingen
am Wegesrand.
Hältst
Zauber
in der Hand.“
1250 g Walderdbeeren, das ist schon eine ansprechende Menge, durfte ich
heute Nachmittag sammeln. Es braucht seine Zeit, diese zusammen zu bekommen.
Niedergebeugt zum Boden, die Konzentration auf die roten Beeren, die Sonne
scheint freundlich durch das Geäst der Sträucher, und die Gedanken dürfen
schweifen. So wird man(n) in der Zeit der kleinen Dinge fast automatisch zum
Philosophen. . .
Jetzt ist wieder Zeit der „lütten Dinger“, der Walderdbeeren,
Waldhimbeeren, Blaubeeren, Johannisbeeren und Felsenbirnen. Die Sommersonne
schickt sich an, Aromen in die kleinen Kügelchen einzukochen, und sie leuchten
farbig aus dem Grün.
Die rote Farbe zum Beispiel der Walderdbeeren signalisiert den sehenden
Wesen, den „Augentieren“ Reife und Genießbarkeit, im Gegensatz zu roter Farbe etwa
auf den Flügeldecken von Insekten, wo sie Giftigkeit signalisiert. Vögel sind solche
„Augentiere“, welche sich angelockt fühlen von roten Früchten, weswegen ihnen die
sprichwörtlichen Vogelbeeren so zusagen. Diese hängen dann auch noch
repräsentabel in großen Dolden an den Außenseiten der Zweige, gut erreichbar.
Hummelragwurz, sie lockt mit Pheromonen |
Doch gerade Walderdbeeren und
–himbeeren, ebenso wie Zwetschgen, Wildbirnen und andere, haben noch ein
weiteres Lockmittel für tierische Verbreiter ihres den Früchten anhängenden
oder innewohnenden Saatgutes: Den Duft, das unvergleichliche Aroma. Mit der
sozusagen „chemischen Sprache“ der Aromen möchten die Pflanzen Wesen einer
anderen Lebenssphäre, die Tiere, anlocken. Mit Blütendüften die Insekten, die
für die Befruchtung sorgen. Bei Tieren ist der sexuelle Akt oft ein „Duftakt“,
dem Anlocken der Partnerinnen und Partner dient ein duftendes Vorspiel.
„Pheromone“, Sexuallockstoffe sind der materielle Ausdruck davon. Einige
Orchideenarten, wie zum Beispiel die Hummelragwurz, gehen sogar soweit, das
Pheromon bestimmter Arten fast identisch „nachzubauen“.
Dass wir Menschen als „Nasentiere“ den Lockstoffen von Blüten auch sehr
gerne unterliegen, zeigt die große Anzahl an Blütendüften, die wir in
aufreizenden Parfums verarbeiten. Die Aromen der Früchte locken ebenfalls
Nasentiere an, die Igel, Mäuse, Waschbären, Wildschweine, uns Menschen, und was
sonst noch, die sich an reifen Früchten laben. Manche, wie die Wildbirnen,
haben das meiste Aroma, wenn sie zu Boden gefallen in Gärung übergehen. „Vogelfrüchte“
bedürfen den Duftstoffen nicht so, denn die Vögel sind, wie erwähnt, eher „Augentiere“. Dann gibt es noch die
Mischformen, die sowohl mit Farbe als auch mit Duft prangen, wie die
Walderdbeeren, die eigentlich eher „Hainerdbeeren“ oder „Waldranderdbeeren“
heißen sollten, denn mitten im Walde sind sie nicht zu finden.
Wie die Blütendüfte dienen auch die Fruchtaromen der Vermehrung der
Pflanzen. Blütendüfte locken die Bestäuber an, und Fruchtaromen die Tiere,
welche die reifen Früchte wegen ihres süßen Fruchtfleisches verzehren möchten
und sollen. Die Kerne, welche zu den Früchten gehören, sind vor den Magensäften
und den Prozessen im Verdauungstrakt geschützt, so überstehen sie den Durchgang
durch das Innere unbeschädigt, um dann in einem nahrhaften Dunghaufen
andernorts abgesetzt zu werden. Eine echte Win-Win-Situation, welche die
Pflanzen sich da haben einfallen lassen.
Vom Walderdbeermus reicht eine geringe Portion, um eine Menge Süßspeise
zu aromatisieren. Es ist bekannt, dass es so viele Erdbeeren weltweit gar nicht
gibt, um die immense Menge an „Erdbeeryoghurts“ etc., die produziert werden, zu
aromatisieren. Dem Ganzen wird „naturidentisches Aroma“ und Farbstoff
beigefügt, so dass es die Illusion von „Erdbeere“ gibt. Ich brauche jedoch
nicht jeden Tag Erdbeerprodukte zu essen, mir reichen einige Gläser für das
Jahr aus, die dann zu besonderen Anlässen geöffnet werden. (Auch meine Mutter
hatte ihre paar besonderen Gläschen). Für den täglichen Obst- und Kompottbedarf
kommen später die großen Mengen an Zwetschgen, Äpfel, Birnen.
Es gibt auch Zuchtformen und –sorten der Erdbeere, die nennenswertes
Aroma mitbringen, wie zum Beispiel die unvergleichliche Sorte „Mieze
Schindler“. Wem also das Sammeln am Waldrand zu „fummelig“ ist, der oder die
kann auch im eigenen Garten aromareiche Früchte ansiedeln.
Meine Mutter hatte neben den großen Erdbeeren im Garten (sie kultivierte
die leckeren „Senga Sengana“) unter einer Strauchgruppe Walderdbeeren
angesiedelt, die sie dort sammelte, um dann jedes Jahr ihre fünf bis sechs
Gläschen Marmelade davon zu kochen, für die ganz besonderen Gäste (wie ich
jetzt auch, aus Wildbeständen, siehe oben). Ich selber möchte im Garten auch
immer ein paar Pflanzen von großfrüchtigen Sorten haben, jedoch nicht, um von
den Früchten Marmelade zu kochen, sondern um sie in der Sommersonne zu pflücken
und zu naschen.
Doch habe ich mich im Laufe der Zeit immer mehr vom Gärtner zum Sammler
entwickelt, und seitdem ich hier in Fredelsloh am Rande des Sollings lebe, bin
ich lieber „draußen“, in Wald und Flur, als „drinnen“, im Garten. Nun bin ich
der Letzte, der sich wünscht, dass Horden von Städtern in die letzten intakten
Landschaften einfallen, um alles zu ernten, was es zu ernten gibt, womöglich
noch nach dem Motto „umsonst“. (Dabei ist die Ernte von so kleinen Früchten wie
die der Walderdbeere durchaus nicht „umsonst“, besonders dann nicht, wenn die
Rechnung „Zeit ist Geld“ aufgeht. Denn man muss durchaus Zeit mitbringen, um
eine namhafte Menge zusammen zu bekommen).
Es entspricht meiner „Indianerseele“, das Schweifen draußen, und das
einsammeln und pflücken von wildnatürlichem Kräutern, Früchten, Pilzen, Nüssen.
Es ist gewiss auch ein gut Teil Kindheitserinnerung dabei, denn im Sommer war
ich mit Eltern; Tanten, Onkeln und Großeltern oft im Wald, um zu sammeln. Das
waren die glücklicheren Zeiten der Kindheit. Und auch das spiegelt sich in mir
bei dieser meditativen Tätigkeit. Gewiss, die einzelne Frucht ist wesentlich
kleiner als die der Zuchtformen, das Sammeln von einem Pfund dauert wesentlich
länger, doch andererseits spare ich Zeit dadurch, dass ich kein Erdbeerbeet
anlege, die Pflanzen im Garten betüddel, und mich mal wieder ärgere, wenn
Schnecken und Amseln schneller waren. Doch da mag sich jede und jeder selber
prüfen. (Die meisten kaufen am liebsten. . .).
Mich macht das Gesamte glücklich: Das Umherschweifen in der Landschaft,
um die besten Sammelstellen zu finden, das Pflücken der Früchte, das
Verarbeiten in der Küche, das Öffnen eines Glases Fruchtmuses im Winter, das
selber essen und das bewirten von lieben Gästen mit einer leckeren Süßspeise.
Das in seiner Gesamtheit, ist nicht kaufbar. Hier bewege ich mich jenseits der
Warenwelt. „Reich willst du werden?
- Warum bist du´s nicht?“
(Joachim Ringelnatz)
Ich liebe die kleinen Dinge.
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