Mondrhythmen
Die
Erde ist zwar keine Scheibe, und sie ist ein unbedeutender Planet am
Rande des Universums, aber andererseits ist sie auch der Mittelpunkt
von allem, und Sonne, Mond und Sterne drehen sich nur um sie. Und ich
bin der Mittelpunkt der Erde, der Betrachter des Himmels und des
Mondes und der Sterne, und alles dreht sich um mich. Frau Mond ist
auch ein Wandelstern. Ich freue mich, dass sie so gut zu betrachten
ist. Selbst hier, in Meinem Avalon, wo die Nächte durch die nahe
Stadt niemals wirklich dunkel werden, und die Sterne häufig kaum
sichtbar sind, selbst hier lächelt sie mir zu, wenn der Himmel
unbedeckt ist.
Ich habe mir einen Kalender erstellt, in dem die Mondphasen vermerkt sind.
Die Vollmonde, die Neumonde, die Viertelmonde. „Viertelmond“ ist
mein Terminus für Halbmond. Ich wählte ihn, oder er wählte mich, um
mich immer an die vier Mondphasen zu erinnern. Dieser Kalender
richtet sich nach dem, was beobachtbar ist, und er ist ein
Mondkalender. Unser moderner Kalender ist ein Sonnenkalender, er
orientiert sich an dem Sonnenjahr. Außerdem hat er merkwürdig
verschobene Rhythmen: So beginnt bei ihm das neue Jahr am Ende der
Rauhnächte. Sicherlich ist hier ein Fest wie Silvester sicherlich
berechtigt, und auch das Reinigen durch Böllerei, das
Böse-Geister-Vertreiben, hat hier einen guten Zeitpunkt gefunden, so
wie das Gute-Vorsätze-Machen. Nur ist dieses Datum kein
Jahresanfang. Das Keltische Jahr beginnt am ersten November, es gibt
auch Überlieferungen, dass das Jahr zum Frühjahrsbeginn anfängt,
zur Frühjahrs-Tag-und-Nachtgleiche. Dann gibt es noch das Mondjahr,
welches mit dem Vollmond vor dem ersten November beginnt. Der erste
Januar ist da recht willkürlich gewählt.
Um
es gleich vorweg zu sagen: Mein Sonnenjahr beginnt mit dem
Frühlingsbeginn, mein Mondenjahr mit dem Vollmond vor Allerheiligen
und das Ende der Rauhnächte begehe ich in der Sylvesternacht. So hat
das für mich seine Richtigkeit.
Der
Mond lebt und webt nicht nur in einem Rhythmus, er hat seine
Rhythmen. Diese sind geeignet, jeden Kalender schon zu Beginn seiner
Aufzeichnung obsolet werden zu lassen. Es ist kein Ticktack-Takt der
Uhr, welcher sich da am Himmel abspielt. Wenn es in Zahlen
aufgeschrieben wird, sind das alles krumme Zahlen. Sogar der
herkömmliche Sonnenkalender spiegelt diesen Sachverhalt, indem alle
vier Jahre ein Tag im Februar hinzugefügt wird.
Das
heißt, auch mein Kalendarium ist alles andere als ein korrektes
Kompendium stetig wiederkehrender Geschehnisse in einem Kreislauf.
Zum einen läuft in unserem Sonnensystem alles in einer Spiralbahn,
da sich die Sonne selbst bewegt, zum anderen sind die Konstellationen
so vielfältig, dass keine jemals einer vorangegangenen gleich ist.
Es ist schließlich auch kein Blatt an einem Baume dem anderen
gleich, und keine noch so kleine Welle im Ozean gleicht einer
anderen. Schließlich kommt es noch darauf an, wann, wie und warum
ich in den Himmel schaue. Das wissen auch schon die Physiker, dass
der Betrachter Teil des Experimentes ist.
Die
Planeten, und damit auch der Mond, bewegen sich entlang der
Sonnenbahn. Dort sind sie beobachtbar. Sie bewegen sich entgegen dem
Uhrzeigersinn, sind aber manchmal rückläufig, dann bewegen sie sich
mit der Uhr. Im Hintergrund der Bewegungen sind die fixierten Sterne,
die Fixsterne. Zur leichteren Orientierung sind sie in Sternbildern
zusammengefasst, den Tierkreisbildern. Diese sind verschieden groß,
es sind zwölf, nach anderer Lesart dreizehn, an denen die
Wandelsterne vorüberziehen.
Für
das Sonnenjahr mit seinen zwölf Monaten ist der Kreis dieser
Bewegung in zwölf Regionen unterteilt, von jeweils 30 Grad, die
jeweils einem Tierkreisbild entsprechen.
Das
Himmelszelt als Ganzes dreht sich täglich von Ost nach West in
Uhrzeigerrichtung komplett um seine Achse, dem Nordstern. Die Sonne
macht ihre Wanderung durch den gesamten Tierkreis in annähernd 365
Tagen. Genauer: 365,242 Tage. Der sonnennächste Planet, Merkur,
braucht für diese Reise ca. 88 Tage, Venus 225 Tage. diese beiden
sehen wir als Morgen- oder Abendstern immer in der Nähe der Sonne.
Zusammen mit dem Mond, bilden diese drei die sogenannten
untersonnigen Planeten, das heißt, ihre Laufbahn findet sich
unterhalb der Sonnenlaufbahn. Die weiteren Planeten sind Mars, der
fast zwei Jahre für einen Umlauf benötigt, Jupiter mit annähernd
zwölf Jahren und Saturn mit fast dreißig Jahren. Diese drei bewegen
sich oberhalb der Sonnenbahn, sie werden daher obersonnige Planeten
genannt. Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn sind zudem zuweilen
rückläufig. Auch dieses drückt sich in bestimmten Rhythmen aus.
Der
Mond wandert durch den Tierkreis in 27,32 Tagen. Das sind 27 Tage, 7
Stunden und vier Minuten. In einem Sonnenjahr durchmisst er das
Firmament 13, 139 mal. So hat das Sonnenjahr dreizehn Mondjahre.
Daher gibt es auch Berechnungen, die mit dreizehn Sternbildern
rechnen. Dieser Mondumlauf ist der siderische Umlauf.
Der
Rhythmus der Mondphasen ist abweichend von der siderischen Mondreise.
Von Vollmond zu Vollmond vergehen 29,531Tage. Bei Vollmond steht der
Mond in Opposition zur Sonne, und diese hat sich in den Reisetagen
des Mondes auch weiter bewegt. So habe ich annähernd alle 7,38 Tage
eine neue Mondphase: Vollmond, abnehmender Viertelmond, Neumond,
zunehmender Viertelmond. Es gibt Sonnenjahre, in denen erscheint
dreizehn mal der Vollmond am Nachthimmel.
Der
abnehmende Mond schaut nach links, der zunehmende nach rechts. So ist
das in der Region, die ich hier und jetzt bewohne. In dem annähernd
halben Jahr, in dem ich auf Teneriffa weilte, war die Mondsichel eine
längere Zeit eine nach oben geöffnete Schale. Besonders schön war
das, als sich zwei Planeten glitzernd dazu gesellten und sich im
kurzem Abstand über der geöffneten Schale platzierten. Wir saßen
lange Nächte, vom Orangenblütenduft umweht, und konnten uns an
diesem Schauspiel nicht satt sehen.
Die
Sonne steigt von der Wintersonnenwende an mit jedem Tag höher an den
Scheitelpunkt ihrer Laufbahn, um ab der Sommersonnenwende wieder eine
täglich flachere Bahn einzunehmen. Diese Bewegung tätigen auch die
Planeten und der Mond. Es gibt den absteigenden und den aufsteigenden
Mond. Schließlich gibt es noch den Drachenschwanz und den
Drachenkopf. Wenn der Mond die Sonnenbahn nach oben durchschreitet,
spricht man von ersterem, wenn er die Bahn nach unten hin kreuzt, von
letzterem. Dieser Zyklus beträgt 27,212 Tage. Auch ist der Mond, da
er nicht in einer Kreisbahn, sondern in einer elliptischen Bahn um
die Erde kreist, der Erde mal näher, mal ferner. Es sind immerhin
ungefähr 40000 km Unterschied von der nahesten zur fernsten
Stellung. Dieser Rhythmus beträgt ca. 27,555 Tage.
Die
einzelnen Rhythmen sind nur ungefähr gleich, sie divergieren.
Dadurch gibt es allein beim Mond so viele Möglichkeiten und Zyklen,
dass es dort keinmal den gleichen Mond am Himmel zu sehen gibt. Die
Rhythmen sind so bunt wie das Leben selbst. Sie spiegeln das Leben.
Anhand dieser Zyklen lassen sich keine Quantitäten, wie bei der Uhr,
messen, es sind Qualitäten, die hier ihren Ausdruck finden. Diese
Qualitäten lassen sich nicht wiederholen. Anders als in der
Naturwissenschaft gibt es hier keine wiederholbaren Experimente. So
ist denn auch Misstrauen allen schematischen Aussagen angebracht. Es
ist nicht wie bei einer zu plumpen Astrologie: Du bist Löwe oder
Fisch, dann bist du soundso und passt mit dem oder mit der zusammen,
und in naher Zukunft wird dir dieses und jenes begegnen. So hätten
es viele Menschen gerne. Eine Astrologie, die wie eine exakte
Wissenschaft funktioniert, und bei Kopfschmerz hilft ganz sicher
Aspirin.
Sicher,
es lassen sich auch Qualitäten benennen, und auch der Mond findet
sich immer wieder am Abendhimmel. Es macht einen großen Unterschied,
ob ich um den Zeitpunkt der Frühjahrstagundnachtgleiche oder in den
Hundstagen geboren wurde. Ich beginne mehr und mehr damit, mich
darauf zu verlassen, dass ich die Qualitätsrhythmen nicht nur
errechne, sondern auch erspüre. Ich lasse mich ein. Oft hilft mir
dabei noch der Blick auf den Kalender, in dem ich die mir wichtigen
Mondphasen eingetragen habe, es ist aber immer häufiger ein
bestätigender Blick.
Gerne
schaue ich mir an, was sich am Himmel abspielt, was ich beobachten
kann. Ob der Mond weit oben steht oder tief hängt, in welcher Phase
er sich befindet, wo ich ihn finde, welche Farbe er hat, ob er einen
Hof hat. Manchen Morgen sehe ich beide, Sonne und Mond am Himmel in
trauter Eintracht, an einem Morgen wanderte ich zwischen den beiden
einher, und in mir webte das Bewusstsein, selber auf einem wandelnden
Stern zu leben, selber ein Teil dieses wandelnden Sternes zu sein, so
groß die Welt! - so fühlte ich und mir wurde leicht ums Herz. Ein
kleines einzelliges Wesen reichte, welches sich teilen konnte,
immerdar teilen. War dieser eine Keim gegeben, egal was sonst war, so
vermehrte er sich unaufhörlich, expotenziell, sich teilend, sich
teilend, die Teile sich teilend, sich verändernd, sich einstellend,
anpassend an Möglichkeiten, sich teilend, sich teilend, die Teile
sich teilend, sich verbindend, sich zusammenfügend mit anderen, sich
teilend, sich anpassend, sich verändernd, sich umgestalten,
Metamorphose, welche die Umwelt mitriss, die Mitwelt zur eigenen Welt
gestaltete, die eigene Welt, die wieder formte, formte und teilte,
immer neue Gestalten gebar, ergrünte, jagte, Männlein und Weiblein
gebar, sich teilte und teilte. . .
Letztendlich
kommt der Baum, unter welchem ich wandle aus der gleichen Zelle wie
ich selber, aus der gleichen Zelle wie der Eichelhäher, der die
Samen verteilt und den Wald hütet, wie das Pilzgeflecht, das
hektarweit unterirdisch die Wurzeln verbindet. . .
Das
alles erfuhr ich in einer Unmittelbarkeit jenseits des Intellekts,
derweil ich meiner Wege ging, die Kugelgestalt der Erde, der Mutter
Erde erspürend, während über mir die Sonne und der zunehmende
Viertelmond standen. Das sind die Wanderungen, auf denen ich der
Innenseite der Welt ganz nah bin, und ganz nah bei den Ahnen, deren
Blut in mir webt, deren Wissen in mir lebt, unteilbar mit-geteilt.
Einmal
auch, noch wesentlich länger her, als die Kinder eines Freundes bei
einem Brand umgekommen waren, am Ende einer Zeit, wir zu vielen in
einem Bauernhause wohnend, Lydia, oder war es Bea, hatte im I-Ging
„Verfinsterung des Lichtes“ gelegt. Es war das Jahr der
Todesfälle im Freundeskreis, und der Tod der beiden Kinder bildete
den dunklen Abschluss. Ein Schmerz eilte durch meinen Körper und
meine Seele, dem ich keinen Namen geben konnte. Am Abend dann zog es
mich fort vom Hof, ich ging wie von einem Sog gezogen querfeldein,
über die Moorweiden. Der Mond ging tieforange dunkel groß und
drohend über dem Erlengehölz auf. Er stieg auf, kaum kleiner
werdend, und ich hielt inne, mitten auf der Moorweide. Leichter
Bodennebel war da, kaum wahrnehmbar, nur ein Hauch. Im Innehalten
setzte ich mich auf die Knie und schaute den aufsteigenden Mond an,
der immer noch orange flammte, mit leicht vom Dunst verwaschenen
Rändern. In dem Augenblick, in dem aus meinem Munde ein hoher klarer
vibrierender nicht enden wollender Ton kam, schob sich der Schatten
der Sonne vor den Mond, und die angekündigte Mondfinsternis begann.
Wie ein Wolf heulte ich mit lautschrillem aber klarem Ton dem
verdunkeltem Monde zu, der schließlich nur noch schmutzigorangener
Halo um eine dunkle Scheibe war. Es war fühlbar dunkel um mich
herum, und mein Ton endete schließlich und verlor sich ohne Echo in
der Dunkelheit. Dennoch hallte er in meinem Inneren nach, es fühlte
sich an wie nach einem heftigem Schreck, ich zitterte leicht. Als der
Mond, gereinigt, wieder aus dem Schatten der Sonne auftauchte, stand
ich auf und ging zurück auf den Hof. So nahm das dunkle Jahr für
mich ein Ende. Zum Segen aller wurde ich trotz großer Trauer
handlungsfähig. Es war ein spontanes Ritual, das ich so niemals
hätte planen können und wollen.
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