Freitag, 10. Februar 2012

Am Anfang war der Wald

Am Anfang war der Wald

Mein Avalon, die aus dem Nebel zurückgekehrte Insel, und die Autobahn: Zwei von Menschenhand geschaffene Gebilde in ein und derselben Landschaft. Der Autobahn zu verdanken ist der Waller Feldmarksee, ein Baggersee, aus dem Sand für die Aufschüttung des Autobahndammes gewonnen wurde. Dieser See ist gefällig, und ich habe diesen Sommer einige Male darin gebadet.


Wenn heute die Autobahn aus der Nutzung genommen würde, aus welchen Gründen auch immer, begänne auf der Stelle eine Sukzession, welche nur durch das stetige menschliche Eingreifen unterbrochen wird. Zuerst am Rand- und Mittelstreifen würde Buschwerk entstehen, Brombeeren und Holunder würden sich ansiedeln, die ersten Birken- und Erlensamen würden anfliegen und keimen. Nach und nach würde der Bewuchs höher, Eschen und Ahorne dazukommen, deren Wurzeln nach und nach den Belag der Straße unterhöhlen und durch den Wurzeldruck darin erste Risse entstehen lassen. Schließlich würde in unseren Breiten dort wieder Wald entstehen. Es braucht dazu nur eine gewisse Unberührtheit und Zeit.


Was würde mit meinem Avalon geschehen? Wenn heute dieser Garten aus der Nutzung genommen würde, aus welchen Gründen auch immer, begänne auf der Stelle eine Sukzession, welche nur durch das stetige menschliche Eingreifen unterbrochen wird. Im Gemüsegarten würden als erstes einjährige Pflanzen das Regiment übernehmen, Disteln, Vogelmiere, Franzosenkraut. Sie sind die erste Sukzessionsstufe, und es sind viele Bodenheilkräuter unter ihnen, wie zum Beispiel die Kamille, welche den Boden für die nächste Pflanzendecke vorbereiten.


Die mehrjährigen Stauden würden folgen, Giersch und Brennessel, Ackerwinde und Ackerschachtelhalm, Huflattich und Quecke. Sie würden den Boden mit ihrem Wurzelwerk durchqueren, bis er fast nur noch Wurzelmasse ist, und sie würden, wie zum Beispiel die Brennessel, die reichhaltigen Stickstoffverbindungen im Boden, die unerwünschten Stoffe verarbeiten. Dann kämen die Brombeeren und der Holunder, und. . . Siehe oben.


Der Garten und die Autobahn, sie tun mit der Landschaft beide das Gleiche: Sie verhindern die Entstehung von Wald. Am Anfang war der Wald, er kam nach der Eiszeit hierher, schickte Hasel und Birken voraus, später dann Eichen und Buchen. Die Menschen, welche als erste hier siedelten, konnten mit dem Wald gut leben. Sie ernteten die Nüsse und Samen, lernten es, die Eicheln zu entbittern, siedelten schließlich auf den Geesthügeln rund um die Marsch, da das Land fruchtbar genug war, um Siedler zu ernähren. Im Weserdelta waren die teilweise undurchdringlichen Auwälder, waren die durch stete Überflutung entstandenen Marschwiesen. Tausende Wasservögel lärmten hier und Fische gab es im Überfluss.


Erst später kamen Siedler von weiter her, welche nicht mit dieser Landschaft verwurzelt waren, und die den Ackerbau und die Viehzucht mitbrachten. Für ihre Lebensweise mit dem Feldbau von Getreide war der Wald ein Hindernis. Auch waren sie kriegerisch gestimmt, sie verdrängten die ursprüngliche Bevölkerung, und es wurden immer mehr. Schließlich besiedelten sie auch die von der Urbevölkerung zum Wohnen gemiedenen Gebiete, die Marschen. Dabei lernten sie auch, die kultivierten Wiesen und Äcker einzudeichen.


Ob mein Avalon oder ob Autobahn, wir sind hier die Nachfahren des Eroberervolkes, welches mit dem Wald nichts anderes anfangen konnte, als ihn abzuholzen. Es brauchte ungeheure Mengen Holz als Brennmaterial, zum Brennen von Ziegeln, zum Verhütten von Erzen, es brauchte Holz als Baumaterial, zum Beispiel, um mit großen hölzernen Schiffen auf den Meeren zu expandieren.


Uns heutigen kommt der Waller Feldmarschsee und seine Umgebung mit Baum- und Buschbeständen, Kanälen und Gräben, Weiden und Wiesen, wie Natur vor. Im Vergleich zu den innerstädtischen Gebieten, welche von Stein, Zement und Beton dominiert werden, ist das sicherlich richtig. Nichtsdestotrotz ist es eine ausgeklügelte Kulturlandschaft, die es in dieser Form ohne menschliches Zutun nicht gäbe. Hamme und Wümme, die beiden Flüsse, welche die Landschaft zur Weser hin durchziehen, würden sie regelmäßig überschwemmen, wenn die Deiche nicht wären, und sie würden nichts anderes dulden als Auwälder und Überschwemmungswiesen.


Die Ökotope „Autobahn“ und „Garten Avalon“ sind ohne den Menschen ohne Bestand. Es liegt in unserer Hand, in unserem Ermessen, welche Gestalt die Welt hat, in der wir wohnen. Wir bestimmen durch unsere Nutzung die Form der uns umgebenden Landschaft. Der gesamte Kleingartenpark in der Waller Marsch mit seinen vielen kleinen Inseln und Traumgestaden ist ein vorübergehendes Gebilde. Schon werden erste Parzellen nicht mehr besiedelt, werden Schreberhäuschen und Wilhelm-Kaisen-Häuser abgerissen. Die Wilhelm-Kaisen-Häuser sind eine Bremer Besonderheit. Der damalige Bremer Bürgermeister Kaisen genehmigte ob der großen Wohnungsnot nach dem Krieg das Wohnen in Behelfshäusern in den Kleingartengebieten. Diese Häuser werden jetzt nach und nach abgerissen, sobald die Altbewohner ausgezogen oder verstorben sind. Es soll niemand in den Parzellengebieten wohnen. Eine Verschärfung der Auflagen für neue Stromanschlüsse gibt es darüber hinaus. Wenn auf einer Parzelle ein Neuanschluss benötigt wird, dann kostet dieser dreitausend Euro. Er ist mithin teurer als Gartenhäuschen, Bepflanzung und Gewächshaus zusammen.


Dieser Kleingartenpark liegt günstig. Für etwaige Industrieansiedlungen. Da sind die Autobahn und die Eisenbahn, da ist die nahe Mülldeponie, da ist ein vorhandenes Stromnetz. Wenn eines Tages Erweiterungsland für Industrie benötigt wird, dann ist es ein Leichtes, dieses Gelände umzuwidmen. Wenn dort keine Menschen fest wohnen. Die Siedler, die wollen, bekommen dann irgendwo anders Ausgleichsflächen, und ruckzuck sind die Trauminseln, Gemüseäcker und Gartenzwergidyllen nur noch Erinnerungen. Der Vorsitzende des Vereins, unter dessen Fittichen mein Avalon ist, nimmt die Sache gelassen: Die nächsten zwanzig Jahre wird das nichts, und dann bin ich nicht mehr. Vorsichtshalber will er sich trotzdem in den Bauausschuss wählen lassen.


Im Anfang war der Wald. Mit seinen Pflanzen und Tieren, mit den Menschen, die sich dem Leben im Walde angepasst hatten. Wenn die Menschen, die den Wald verschwinden ließen, selber verschwinden, wird der Wald wieder sein. Wenn die Menschen bleiben, liegt es mit an ihnen, was sein wird. Nun bin auch ich Mensch. Also liegt es auch an mir, was sein wird. Ich habe mich für mein Avalon entschieden.



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen