Mittwoch, 10. August 2016

. . . on Blueberry Hill





. . . on Blueberry Hill

Anfang August, nach zuerst großer Trockenheit und dann kühlen Regentagen mit der Liebsten einmal wieder in den Wald, um nach den Pilzen zu schauen. Doch diese machten sich noch rar. Zu unserem Glück hatten wir auch zwei kleine Sammeleimer dabei, denn wir kamen an eine Stelle, an der Blaubeeren wuchsen, und an den kleinen Sträuchern war sogar etwas dran. So sammelten wir denn Blaubeeren statt Pilze.

Das ist nun eine ganz andere Art Arbeit, als Pilze sammeln. Die Büsche sind niedrig, und die Beeren klein. Also, viel geduldiges Bücken und Pflücken (des Reimes willen: „mit schmerzendem Rücken“). Dazu kommen immer wieder irgendwelche aufdringlichen Fliegen an und brummen einem um den Kopf, setzten sich an Mund und Nase, und sind dabei auch noch hartnäckig und lassen sich nicht verscheuchen. Manchmal piekst es auch, dann wurde man wieder von einer „Blinden Fliege“, einer Bremse, gestochen. (Ganz zu schweigen davon, dass man sich abends nach Zecken absuchen muss, Sommerzeit ist Juckreizzeit).

Am Anfang dauert es, bis überhaupt der Boden des Sammeleimers bedeckt ist. Dann hat man schon ein bisschen Übung, und es scheint schneller mit dem Füllen des Sammeleimers zu gehen, bis er denn so halb voll ist. Ab da scheint sich wieder die Zeit zu dehnen, und bis „randvoll“ dauert es eine gefühlte halbe Ewigkeit. Zwischendurch richtet man sich auf, und genießt die Waldluft und den Sonnenschein, und bewundert die blauen Finger.

Später, wenn dann der Blaubeerkuchen fertig ist, zeigt es sich, dass sich die Zeitaufwendung doch gelohnt hat. In meiner Kindheit gab es am Abend der Blaubeertage Bickbeerensuppe, die so schön die Zunge färbte, und danach Kartoffelpuffer. Überhaupt ist das Sammeln der Blaubeeren so rechte „Kinderarbeit“, ich habe die Tage im Walde in guter Erinnerung. Mit Kind und Kegel, wie es so schön heißt, bei uns jedoch eher mit Kindern und ohne Kegel, dafür mit Sammeleimern, ging es hinaus in den Wald. Wir waren drei, später vier Kinder, dazu meine Eltern, und wenn man schon am frühen Vormittag begann, dann kam bis zum Abend einiges zusammen. Es war so ein kleiner Wettbewerb zwischen uns, wer am Abend die größte Menge zusammen hatte, wobei sich die Mutter außer Konkurrenz stellte, und der Vater immer gewann.

Genascht wurde zwischendurch nicht, das war Ehrensache. Erst zum Picknick mittags höhlte man eines der mitgebrachten Brötchen aus und füllte es mit frischen Blaubeeren. Das war lecker und färbte Lippen und Zunge so schön. Doch noch leckerer als frisch sind die Blaubeeren eben gekocht, als Suppe und als Fruchtmus oder Marmelade. Wie so manche anderen Früchte auch, wie etwa Himbeeren, gewinnen sie durch Erwärmung an Aroma.

Wir sammelten im Sommer Beeren und Pilze und verarbeiteten sie zum Wintervorrat. Das war ebenso wie das „Kartoffelstöppeln“, die Nachlese auf den Kartoffelfeldern, für eine sechsköpfige Familie auch eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Was gesammelt wurde, brauchte nicht gekauft werden. Und, wie schon gesagt, diese Familienausflüge in die Beeren sind mir in guter Erinnerung, die glücklicheren Tage der Kindheit, die meine Seele für den Wald geöffnet haben, was bis heute anhält.

Etwas anderes ist es vielleicht, wenn nicht mehr gesammelt wird für den eigenen Wintervorrat, sondern für den Verkauf. In Schlarpe, einem anderen Sollingdorf, wird jeden Sommer das Heidelbeerfest gefeiert „zur Erinnerung daran, dass die kleinen blauen Früchte vielen Schlarper Familien Jahrhunderte lang halfen, einigermaßen über die Runden zu kommen. In den Monaten Juli und August zur Haupterntezeit der Beeren bekamen die Kinder spezielle Heidelbeerferien. Bereits ganz früh am Morgen gingen sie mit den Erwachsenen zum Pflücken in den Wald. Den größten Teil der Ernte brachten die Frauen damals zu Fuß auf die Märkte der Umgebung. Dazu mussten sie oft bereits mitten in der Nacht aufbrechen. Damit die bitterarmen Familien in dem kleinen Ort am Wald überleben konnten, war das Heidelbeergeld dringend notwendig.“, heißt es im Buch „Das Kochbuch Solling und Leinetal  -  Gerichte und Geschichten von Peker bis Polder“, von den LandFrauenkreisverbänden Northeim und Altkreis Einbeck in der Edition Limosa.

"Blueberry Hill, hier nicht im Solling, sondern im Waldviertel
Ob das dann für die Kinder die heiteren Tage im Walde waren, wie ich sie erlebt habe, das wage ich zu bezweifeln. „Bereits am frühen Morgen“ loszuziehen, den ganzen Tag in den Büschen, um das dringend benötigte Heidelbeergeld zu verdienen, das klingt eher nach anstrengender Arbeit. In diesem Zusammenhang wundere ich mich sowieso, zu welchen Schleuderpreisen Wildheidelbeermarmelade in den Discountern verkauft wird. Ich glaube nicht, dass die Sammlerinnen und Sammler in Polen, und wo überall Bickbeeren kommerziell gesammelt werden, besonders viel damit verdienen.

Auch in Fredelsloh, meinem jetzigen Wohnort, gab es wohl nicht nur die „gute alte Zeit“: „Die meisten Dorfbewohner lebten äußerst bescheiden am Rande des Existenzminimums. Viele Kinder, wie auch Engelschristines späterer Mann Hanfriech, konnten nicht einmal regelmäßig die Schule besuchen, weil die familiäre Erwerbsgemeinschaft dies nicht zuließ und sie infolgedessen mitarbeiten mussten. Die Sterblichkeit der Bevölkerung war größer als in den Nachbargemeinden. Besonders die Tuberkulose erforderte auch unter den jungen Menschen viele Todesopfer. Die miserablen Lebensbedingungen in diesem abgelegenen Walddorf führten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer stetigen Abwanderung der Bevölkerung in das Umland, in die nord- und westdeutschen Industriegebiete und nach Amerika“, heißt es in dem von Ira Spieker und Wolfgang Schäfer geschriebenen Nachwort zu der Neuerscheinung des Buches „Engelchristine: Jugenderinnerungen aus einem Sollingdorf“ von Hanshenderk Solljer unter dem Titel „Mägdealltag und Mädchenträume“, Holzminden, 2000.

Die Armut hatte neben den kargen Böden in der Umgebung des Sollingdorfes noch andere Gründe: „Das Klostergut besaß ausgedehnte Waldungen und beschäftigte sogar einen Förster. Die Hege des Wildes für ausschließlich herrschaftliche Jagden und infolgedessen die Vernichtung der Ernten durch die zahlreichen Wildschweine oder das Rehwild provozierten den Zorn der Einwohnerschaft und widersprachen ihrem Gerechtigkeitsempfinden. Auseinandersetzungen mit dem Gutspächter bzw. seinen Verwaltern und Vögten waren für viele Dorfbewohner an der Tagesordnung  . . .   Die steuerlichen Abgaben an die Klosterherrschaft und andere Grundherren lasteten ebenfalls schwer auf den meisten Einwohnern.“ (ebenda)

So ist man denn wieder bei den alten, bitteren Geschichten der Welt. Die Armut ist menschengemacht, und entspringt einem ungerechten Herrschafts- und Wirtschaftsgefüge. An der Auflösung dessen mitzuarbeiten, ist in einem gewissen Sinne Pflicht. Aus Fredelsloh zogen, oder besser, flohen ab Mitte des 19. Jahrhunderts hunderte Menschen in das gelobte Land Amerika. „Lebten um 1850 etwa 1400 Menschen in Fredelsloh, so waren es 50 Jahre später nur noch gut 700. ein erheblicher Teil von ihnen wanderte  -  zumeist in Gruppen von einigen Dutzend Menschen  -  nach Amerika aus.“ (ebenda)

Und: „Die Auswanderer erhofften sich nicht nur wirtschaftliche Aufstiegsmöglichkeiten jenseits des Atlantiks, sondern wurden auch von politisch-sozialen Zwängen der deutschen Obrigkeitsstaaten außer Landes getrieben. Während in Amerika für sie das Land der Freiheit war, bestimmten in Deutschland vielfältige Abhängigkeiten und Privilegien das alltägliche Leben.“ (ebenda)

Dieses „Land der Freiheit“ wiederum wurde auf Kosten der dort ansässigen Bevölkerung, den indianischen Völkern, rücksichtslos etabliert. So dass auch hier wieder der Satz stimmen mag, „der größte Wunsch des Sklaven ist nicht die Freiheit, sondern, selber Sklaven halten zu können“. Europa exportierte seine Gewaltkultur in alle Welt. Die Armen von hier lebten dann „dort“ sicherlich besser. Doch in der Gesamtsumme hat sich das Elend vermehrt.

Heute lebt es sich im idyllischen Dörfchen Fredelsloh ganz anständig, sofern man gewillt ist, die dörfliche „Langeweile“ gegen die Umtriebigkeit der Stadt einzutauschen. Das liegt zum einen daran, dass Deutschland noch ein verhältnismäßig reiches Land ist, zum anderen daran, dass es hier eine gute soziale Gemeinschaft gibt. Auch die dörfliche Infrastruktur trägt ihres dazu bei: Es gibt noch ein Lebensmittelgeschäft, einen Fleischer, einen Bäcker, zum Beispiel. Doch die Einschläge kommen auch hier näher: Das Dorf droht zu überaltern, da die Jungen weg ziehen, und keine nach kommen. Die Flurbereinigung hat einige Schneisen in das Landschaftsbild geschlagen. Dazu kommt, dass die industrielle Landwirtschaft den bäuerlichen Betrieben „das Wasser abgräbt“. Wir haben gerade noch einen Milchbauern im Ort, und der macht auch nur noch so lange, bis er in Rente geht. Der Preisverfall in der Milch“produktion“ lässt ihn keinen Raum.

Und was geschieht, wenn es einmal wieder Not gibt? So eine Weltwirtschaftskrise kann schneller kommen, als es gedacht wird. Dann gibt es zweierlei nicht mehr: Eine Infrastruktur für eine regionale Selbstversorgung, mit Mühle, Kleinmolkerei, Schlachterei etc., und es gibt kein „Amerika“ mehr, wohin es sich auswandern lässt.

Über all das lässt sich nachdenken bei so einfachen Tätigkeiten wie das Sammeln von Blaubeeren. Auch darüber, was wohl gewesen wäre, wenn die Weißen nicht als Eroberer und Kolonialisten in das gelobte Amerika gekommen wären, sondern als Lernende. Dann hätten sie vielleicht folgendes lernen können: „Es ist ein großer Fehler, irgendeine Gruppe oder irgendwelche Menschen als Gegner zu betrachten. Wenn du dies nämlich tust, drängst du sie genau in diese Rolle. Es ist nützlicher, jeden anderen Menschen als ein anderes Ich, jedes einzelne Individuum als einen Vertreter dieses Universums zu betrachten“, so der Indianerheiler Mad Bear, zitiert nach Heinz J. Stammel „Die Apotheke Manitous  -  Das Heilwissen der Indianer“.

Übrigens war es hüben wie drüben nicht so verschieden, auch die nordamerikanischen Indianer kannten die Heidelbeere: „Heidel- und Preiselbeere waren seit jeher für die Indianer ein wichtiges Nahrungs- und Heilmittel. Zur Erntezeit der Beeren beteiligten sich nicht nur Alte, Frauen und Kinder am Sammeln, sondern auch die sogenannten `Krieger`, wie Trapper berichteten. Die frischen Beeren wurden während der Reifezeit als Dessert gegessen, Getreide- und Gemüsesuppen beigegeben, hauptsächlich aber luftgetrocknet und für den Winter aufbewahrt“ (ebenda)

Also, so wie bei uns „zuhause“, wenn wir allesamt mit Oma und Opa, Tante und Onkel, Mama, Papa, Kinder in den Sommerferien „in die Beeren“ zogen, um unseren Wintervorrat einzusammeln. Während ich dem nachspüre, summe ich vergnüglich vor mich hin. Ein Lied, aus Amerika, dem gelobten Land: „I found my freedom on blueberry hill“.

p. s. Nach dem Sammelerlebnis von meiner Liebsten und mir backte die Liebste noch einen mächtigen Blaubeerkuchen am nächsten Tag, mit Streuseln und mit Walnusskernen aus Fredelsloh. Den brachten wir dann den fleißigen Helferinnen und Helfern beim Mittelalterofenbrand am Keramikum. Es war Sonntag, und der Ofen wurde nach einer Woche Brenndauer gerade ausgeräumt. Lecker war´s für alle, das Kuchenschlecken (mit Sahne und Vanilleeis!)

Blaubeerkuchen. . .

. . . mit Streusel

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