Sonntag, 1. April 2012

Geschichten vom Transzendentalen Dachboden


Mein Klein Häuschen mit dem Apfelgarten drumherum, mit dem Gemüsegarten, den behaglichen Gehölzen, die es beschützen, mit den Feldhasen, Buchfinken, Grünspechten, Igeln, die es besuchen, mit den vielen kleinen gefundenen Dingen im inneren, dieses Klein Häuschen hat auch einen Dachboden. Dieser ist mit Holz ausgekleidet und gerade hoch genug, dass ich in der Mitte gerade stehen kann. Das Häuschen ist nach der Ost-West-Achse ausgerichtet, und der Dachboden hat in jeder dieser beiden Himmelsrichtungen jeweils ein Doppelfenster. Beim Ostfenster habe ich einige meiner Lieblingsdinge aufgestellt: Die große Pazifikmuschel, welche mir meine Eltern von einer Kreuzfahrt mitbrachten, meinen Seelenstein, ein fast dreieckiges Stück Flintstein mit dem Abdruck eines urzeitlichen See-Igels, all seine fünf Strahlen im Kreis; eine Glasmurmel, etwa vom Durchmesser einer Walnuss, eine gläserne Nachbildung unseres blauen Planeten; eine Bergkristallkugel mit Turmalineinschlüssen, Geschenk der Liebsten.

Hier sitze ich oft des morgens und schaue der Sonne beim Aufgehen zu. Dann kann ich auch eins ums andere Mal eines der Tiere sehen, welche den morgendlichen Garten durchstreifen. Manchmal brumme ich einige selbsterfundene Lieder vor mich hin - hier hört mich ja keiner.

Auch befinden sich meine Lieblingsbücher hier oben. Einige Selbstgeschriebene, doch auch die Bände, welche sich im Laufe eines langen Leselebens angesiedelt haben: Erich Kästners „Lyrische Hausapotheke“, Klabunds „Chinesische Gedichte“, die „Landschaften des Bewusstseins“ von Gary Snyder, dem amerikanischen Dichter der Schildkröteninsel, Luisa Francias „Die 13. Tür“, daneben Rezeptbücher, Gedichtbändchen, das eine und andere Philosophie- und Weisheitsbuch, Kräuter- und Gartenbücher, Kinderbücher, Märchen und Geschichten in bunter Reihenfolge.

Wenn es denn draußen vom Wetter her so schedderig ist, dass man den Garten Garten sein lassen möchte und sich nur noch in warem Wolldecken einmummeln, dann ist es soweit, dann wird sich eines der Bücher gegriffen, und gelesen. Heute war es einmal wieder die folgende Geschichte, eine rechte Dingefindergeschichte, wie ich finde:

 
Novalis - Die Lehrlinge zu Sais


Mannigfache Wege gehen die Menschen. Wer sie verfolgt und vergleicht, wird wunderliche Figuren entstehen sehn; Figuren, die zu jener großen Chiffernschrift zu gehören scheinen, die man überall, auf Flügeln, Eierschalen, in Wolken, im Schnee, in Kristallen und in Steinbildungen, auf gefrierenden Wassern, im Innern und Äußern der Gebirge, der Pflanzen, der Tiere, der Menschen, in den Lichtern des Himmels, auf berührten und gestrichenen Scheiben von Pech und Glas, in den Feilspänen um den Magnet her, und sonderbaren Konjunkturen des Zufalls, erblickt. In ihnen ahndet man den Schlüssel dieser Wunderschrift, die Sprachlehre derselben, allein die Ahndung will sich selbst in keine feste Formen fügen, und scheint kein höherer Schlüssel werden zu wollen. Ein Alkahest scheint über die Sinne der Menschen ausgegossen zu sein. Nur augenblicklich scheinen ihre Wünsche, ihre Gedanken sich zu verdichten. So entstehen ihre Ahndungen, aber nach kurzen Zeiten schwimmt alles wieder, wie vorher, vor ihren Blicken.


Von weitem hört ich sagen: die Unverständlichkeit sei Folge nur des Unverstandes; dieser suche, was er habe, und also niemals weiter finden könne. Man verstehe die Sprache nicht, weil sich die Sprache selber nicht verstehe, nicht verstehen wolle; die echte Sanskrit spräche, um zu sprechen, weil Sprechen ihre Lust und ihr Wesen sei.
Nicht lange darauf sprach einer: »Keiner Erklärung bedarf die heilige Schrift. Wer wahrhaft spricht, ist des ewigen Lebens voll, und wunderbar verwandt mit echten Geheimnissen dünkt uns seine Schrift, denn sie ist ein Akkord aus des Weltalls Symphonie.«
Von unserm Lehrer sprach gewiß die Stimme, denn er versteht die Züge zu versammeln, die überall zerstreut sind. Ein eignes Licht entzündet sich in seinen Blicken, wenn vor uns nun die hohe Rune liegt, und er in unsern Augen späht, ob auch in uns aufgegangen ist das Gestirn, das die Figur sichtbar und verständlich macht. Sieht er uns traurig, daß die Nacht nicht weicht, so tröstet er uns, und verheißt dem emsigen, treuen Seher künftiges Glück. Oft hat er uns erzählt, wie ihm als Kind der Trieb die Sinne zu üben, zu beschäftigen und zu erfüllen, keine Ruhe ließ. Den Sternen sah er zu und ahmte ihre Züge, ihre Stellungen im Sande nach. Ins Luftmeer sah er ohne Rast, und ward nicht müde seine Klarheit, seine Bewegungen, seine Wolken, seine Lichter zu betrachten. Er sammelte sich Steine, Blumen, Käfer aller Art, und legte sie auf mannigfache Weise sich in Reihen. Auf Menschen und auf Tiere gab er acht, am Strand des Meeres saß er, suchte Muscheln. Auf sein Gemüt und seine Gedanken lauschte er sorgsam. Er wußte nicht, wohin ihn seine Sehnsucht trieb. Wie er größer ward, strich er umher, besah sich andre Länder, andre Meere, neue Lüfte, fremde Sterne, unbekannte Pflanzen, Tiere, Menschen, stieg in Höhlen, sah wie in Bänken und in bunten Schichten der Erde Bau vollführt war, und drückte Ton in sonderbare Felsenbilder. Nun fand er überall Bekanntes wieder, nur wunderlich gemischt, gepaart, und also ordneten sich selbst in ihm oft seltsame Dinge. Er merkte bald auf die Verbindungen in allem, auf Begegnungen, Zusammentreffungen. Nun sah er bald nichts mehr allein. – In große bunte Bilder drängten sich die Wahrnehmungen seiner Sinne: er hörte, sah, tastete und dachte zugleich. Er freute sich, Fremdlinge zusammenzubringen. Bald waren ihm die Sterne Menschen, bald die Menschen Sterne, die Steine Tiere, die Wolken Pflanzen, er spielte mit den Kräften und Erscheinungen, er wußte wo und wie er dies und jenes finden, und erscheinen lassen konnte, und griff so selbst in den Saiten nach Tönen und Gängen umher.



Was nun seitdem aus ihm geworden ist, tut er nicht kund. Er sagt uns, daß wir selbst, von ihm und eigner Lust geführt, entdecken würden, was mit ihm vorgegangen sei. Mehrere von uns sind von ihm gewichen. Sie kehrten zu ihren Eltern zurück und lernten ein Gewerbe treiben. Einige sind von ihm ausgesendet worden, wir wissen nicht wohin; er suchte sie aus. Von ihnen waren einige nur kurze Zeit erst da, die andern länger. Eins war ein Kind noch, es war kaum da, so wollte er ihm den Unterricht übergeben. Es hatte große dunkle Augen mit himmelblauem Grunde, wie Lilien glänzte seine Haut, und seine Locken wie lichte Wölkchen, wenn der Abend kommt. Die Stimme drang uns allen durch das Herz, wir hätten gern ihm unsere Blumen, Steine, Federn alles gern geschenkt. Es lächelte unendlich ernst, und uns ward seltsam wohl mit ihm zumute. »Einst wird es wiederkommen«, sagte der Lehrer, »und unter uns wohnen, dann hören die Lehrstunden auf.« – Einen schickte er mit ihm fort, der hat uns oft gedauert. Immer traurig sah er aus, lange Jahre war er hier, ihm glückte nichts, er fand nicht leicht, wenn wir Kristalle suchten oder Blumen. In die Ferne sah er schlecht, bunte Reihen gut zu legen wußte er nicht. Er zerbrach alles so leicht. Doch hatte keiner einen solchen Trieb und solche Lust am Sehn und Hören. Seit einer Zeit, – vorher eh jenes Kind in unsern Kreis trat, – ward er auf einmal heiter und geschickt. Eines Tages war er traurig ausgegangen, er kam nicht wieder und die Nacht brach ein. Wir waren seinetwegen sehr in Sorgen; auf einmal, wie des Morgens Dämmerung kam, hörten wir in einem nahen Haine seine Stimme. Er sang ein hohes, frohes Lied; wir wunderten uns alle; der Lehrer sah mit einem Blick nach Morgen, wie ich ihn wohl nie wieder sehen werde. In unsre Mitte trat er bald, und brachte, mit unaussprechlicher Seligkeit im Antlitz, ein unscheinbares Steinchen von seltsamer Gestalt. Der Lehrer nahm es in die Hand, und küßte ihn lange, dann sah er uns mit nassen Augen an und legte dieses Steinchen auf einen leeren Platz, der mitten unter andern Steinen lag, gerade wo wie Strahlen viele Reihen sich berührten.


Ich werde dieser Augenblicke nie fortan vergessen. Uns war, als hätten wir im Vorübergehn eine helle Ahndung dieser wunderbaren Welt in unsern Seelen gehabt.











Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen,
Wenn die, so singen oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt ins freie Leben,
Und in die Welt wird zurück begeben,
Wenn sich wieder Licht und Schatten
Zu echter Klarheit werden gatten,
Und man in Märchen und Gedichten
Erkennt die ew´gen Weltgeschichten,
Dann fliegt vor einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.
Novalis (1772  -  1801)







2 Kommentare:

  1. Eine Botschaft, wie aus einer anderen versunkenen Zeit, macht traurig, wehmütig.
    Mut gehört dazu, dem Wehtun nachzuspüren

    es brauchte nicht
    des sturmes wildes treiben
    der toste in der tiefsten nacht
    die Trommelwirbel an den fensterscheiben
    die mich um meinen schlaf gebracht
    es tobte ruhelos in meinen innern
    und wüste schatten wandern in den zimmern
    der geist löst sich vom leib
    in wilden wehen
    und sieht mich abseits
    wie fremd am fenster stehen
    und weiß ...
    was ist geschehen

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  2. Ich habe diese Geschiche immer geliebt. Als ich sie das erste Mal las, ich glaube als sechszehnjähriger, da war es ein déjà-vu für mich.

    Mich stimmte sie eher hoffnungsfroh denn traurig.

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