Samstag, 8. Februar 2025

Aus Dingefinders Büchergarten: Heimekenbrinks Engelchristine

 



"Heimekenbrinks Engelchristine" - Das war meine Lektüre die letzten Tage, die Geschichte der Kindheit und Jugend einer Bauerntochter aus dem Solling, von 1922. Ein anrührender Blick in eine vergangene Welt. Engelchristine (eigentlich Friederike von Ohlen, geb. Hagedorn) lebte von 1838 bis 1923 in dem kleinen Dorf Fredelsloh im Solling. Wenige Jahre vor ihrem Tod hielt ihr jüngster Sohn August (Pseudonym: Hanshenderk Solljer) die Lebenserinnerungen seiner Mutter fest. So tauche ich auch in die Vergangenheit meiner Wahlheimat ein.

Engelchristine erzählt:

Als ich noch klein war und von meiner Mutter zum erstenmal das Märchen von Frau Holle gehört hatte, bin ich heimlich zu unserm Hausborn geschlichen und habe trotz strengsten Verbot über den Rand in die Tiefe gelugt und - denkt euch - auch richtig das Spinnemädchen mit dem Flachshaar und den großen Augen gesehen. Auch der blaue Himmel war da und von der Blumenwiese ein paar Grasbüschel und grüne Zweige.

Ich habe mich zuerst ein wenig erschrocken, nickte dann aber dem armen Kinde einladend zu, es solle doch herauskommen und mit mir spielen. Da winkte es ebenso freundlich wieder, kam aber nicht und verschwand, als ich mich zurückzog.

„Nun wird es bei unserm `Säutjebaum` sein und die reifen Äpfel schütteln“, dachte ich und lief in den Garten.

Wie ich aber auch wartete, das Mädchen ließ sich nicht blicken, und der Apfelbaum tat auch seinen Mund nicht auf.

Unterwegs konnte das Mädchen unmöglich mehr sein, dazu war der Brunnen zu nahe. „Also,“ folgerte ich, „waren die Äpfel noch nicht alle miteinander reif, oder der Baum ist überhaupt noch nicht geschüttelt.“ In diesem Falle war die im Born nicht die Fleißige, sondern die Faule gewesen.

Das musste ich rauskriegen! Ich grapschte also geschwind einen „Säutjen“ unter dem Baume auf und lief, in den Apfel beißend, spornstreichs zu unserm Backofen, der weitab vom Hause unter allerhand Obstbäumen im Garten stand und gerade den würzigen Geruch frischbackenen Brotes verbreitete. Aber ich erlebte eine neue Enttäuschung. Statt eines jungen Mädchens zog eine gebückte Greisin dort Brote heraus.

„O, Frau Holle!“ rief ich erschreckt aus und blieb wie angewurzelt auf der Schwelle stehen.

„Nä, Duiwels Lottewase!“ erwiderte die Alte mit feiner Beberstimme und wandte ihr Gesicht der hellen Tür zu. Da erkannte ich denn auch die alte Freundin unseres Hauses und schämte mich meiner Dummmheit.

Aber die Lottewase, die bei uns Kindern manchen Winterabend auf der Ofenbank und zur Sommerzeit manche Schummerstunde vor der Tür gesessen und mit ihrer dünnen, weinerlichen Stimme schöne Geschichten erzählt hat, zog mich freundlich zu sich ins Backhaus und hatte bald heraus, was mich bewegte und hertrieb.

„Die Spinnerinnen suchst du, Engelstine?“ sagte sie teilnahmsvoll. „Da bist du wohl zu spät gekommen, die sind schon längst bei der Frau Holle in der Drakenhöhle.“

Damit brach sie mir ein Stück von ihrem Brotkuchen ab und führte mich vor das Backhaus, zeigte nach einer tiefen dornbewachsenen Schlucht hinten an der Wakelburg, wo im Frühjahr der Schnee immer solange liegen blieb, und sagte: „Dort wohnt sie.“

Ich schaute angestrengt nach dem geheimnisvollen Orte und fragte dann: „Da, wo es so glitzert?“

„Glitzert es dort, Kind?“ fragte Duiwels Lottewase zurück. „Meine Augen reichen nicht mehr so weit, aber,“ setzte sie, bedeutsam den Finger hebend, hinzu, „wenn es da blinkert und glitzert, dann sind die Hänselmännchen wieder mal dabei und sonnen der Frau Holle ihr vieles, vieles Gold.“

Ich lief hinten ans Ende unseres Gartens, um von dort aus die gesonnten Schätze zu sehen. Aber da waren sie verschwunden. Nun zwängte ich mich durch eine schadhafte Stelle der Hecke. Dabei riß ich mir ein Loch ins Kleid und die Hände blutig, achtete es aber nicht sonderlich, sondern lief querfeldein immer geradeaus auf die Drachenhöhle zu. Da meine Augen und Gedanken aber den Füßen voraneilten, stolperte ich einige Male und füllte mir obendrein in einem schlammigen Graben die Schuhe voll.

Ganz erhitzt und matt stand ich endlich vor der Drachenhöhle, von dem Gold und feinen Hütern war nichts zu sehen. Nur ein paar blanke Topfscherben fielen mir in die Augen.

Es jackert eben jeder einmal und mancher sein ganzes Leben hinter Glanz und Golde her; und was findet er schließlich? Nichts als wertlose Scherben.

Mir ist es mein Lebtag mit allen Geschichten so ergangen wie damals mit dem Märchen von Frau Holle. Meine Gedanken hatten stets nichts Eiligeres zu tun, als die Begebenheiten an mir bekannte und vertraute Örtlichkeiten in oder um Dießeloh zu verlegen, selbst wenn hundertemal andere Orte in der Erzählung genannt wurden. Denn Dießeloh ist mir zeitlebens mein Ein und Alles gewesen, und in diesen lieben Erdenwinkel stelle und rahme ich in meiner Einfalt die ganze Welt und ihre Geschehnisse ein.

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