Vorzeiten,
so erzählen uns unzählige Sagen, war unser Land überall von Riesen, Zwergen,
Elfen, Nixen und anderen rätselhaften Wesen bewohnt. Menschen sind erst später
eingewandert und haben dann durch ihre Vermehrung und Ausbreitung jene
Ureinwohner immer mehr zurückgedrängt.
Wenn
man den südöstlichen, steilen Abhang der Vogelsburg hinabsteigt, so gelangt man
in eine tiefe Schlucht, welche „die Brandesgrund“ genannt wird. Ein Bächlein
rinnt murmelnd darin hinab, das seinen Ursprung nimmt aus einer am oberen Ende
der Schlucht befindlichen Waldquelle.
Vor
wenigen Jahren, an einem heißen Sommertage, stand der Erzähler nach langer,
wohl vierzigjähriger Abwesenheit wieder an dieser Quelle. Nun war er alt
geworden, die Quelle aber jung geblieben; denn umkränzt von blühenden
Waldblumen bot sie gleich einer jungen Maid ihm zum Willkommen -
wie einst - erfrischenden Waldtrunk. Und da ließ er sich nieder auf
weichem Nadelpolster und lauschte wieder dem sprudelndem Quell und dem murmelnden
Bächlein. Durch die Lichtung von oben schien die Sonne und übergoß die Quelle
mit lachendem Goldglanz. Aus dem Busch drüben am Bach und von hohen Baumwipfeln
drangen, wie einst, mancherlei Vogelstimmen. - Es war, als ob
alle - Quelle, Bächlein, Sonne, Blümlein und Vögelein -
erzählen wollten, was sich einst zugetragen hier am tiefversteckt gelegener
Waldquelle.
Und
nun tauchten auch in der Erinnerung des Erzählers wieder so manche Erzählungen
auf, die sich an den Brandesbrunnen knüpften und denen der Erzähler in seiner
Kindheit so gern aus dem Munde der Alten gelauscht hat.
Unweit
der sagenumwobenen Vogelsburg liegt eine enge, tiefe Talschlucht, die von
alters her von den Einwohnern Vogelbecks „die Sprinkelsgrund“ genannt wird.
Ihre hohen, steilen Böschungen sind mit dichtem, wilddurchwachsenem Buschwerk,
Dorn- und Brombeerengesträuch besiedelt. Hindurch ragen auch
vereinzeltstehende, breitgeästete Pappeln, deren Silberlaub im leisen Windhauch
flattert und zittert.
Während
in tiefverborgener Höhle am oberen Ende der Sprinkelsgrund Abkömmlinge eines
gutmütigen Zwergengeschlechts ein geheimnisvolles Leben fristeten, barg zu
gleicher Zeit die Sprinkelsgrund noch eine weitere Siedlung wunderseltener
Erdgeschöpfe. Tief unten am Eingange der Schlucht lag - nach
Aussage längst Verstorbener aus Vogelbeck - ein stiller,
tiefgründiger Weiher. Dichtes Weiden- und Erlengebüsch umsäumte die Ufer, und
ringsum flüsterte es geheimnisvoll in den graublättrigen Erlenbäumen. Zuweilen drang
auch leiser, wunderbarer Gesang und Harfenklang aus dem Gebüsch den glatten
Wasserspiegel herüber. In den stillen Wasserfluten vergnügten sich Silberfische
im Wettschwimmen, und erhoben Teichfrösche in lauen Frühlingsnächten ihre
Kehlen zu vielstimmigen Froschkantaten. Und in mondhellen Nächten brodelte und
gluckste es unheimlich in der Tiefe des Weihers und - schöne
Jungfrauen in schillernden Gewändern, langbärtige Männlein mit grünen Zähnen
und grünem Hut und goldlockige Knaben mit rotem Käpplein auf dem Haupt entstiegen
dem Wasser und vereinigten sich unter den Erlen zu Tanz und Gesang. Das war der
Mondreigen der Waldnixen!
Aus: "Vogelbeck - Ein Heimatbuch" (1926) von Wilhelm Körber
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