Sonntag, 3. November 2013

"Eine Ziege und noch ´ne Ziege. . .


. . . das macht zusammen zwei, und wenn die sich zusammen tun, dann gibts ´ne Ziegelei!" sangen wir als Jugendliche schön laut und schön falsch. Dass ich später einmal eine solche "Ziegelei" haben sollte wusste ich noch nicht. Zwar wollte ich als geborenes Stadtkind unbedingt "aufs Land", doch hatte ich keine Vorstellung, wie das "aufs Land" aussehen würde. Später war ich dann auf dem Lande und pflegte die kleine fünfköpfige Ziegenschar, welche wir vom Vorbesitzer übernommen hatten.

Nachdem ich mich, wie berichtet, mit der Leitziege mit dem Namen Gazelle angefreundet hatte und sozusagen als "Ziege ehrenhalber" in die Gruppe aufgenommen war, hatte ich mit den Tieren eine gute Zeit. Ziegen sind fröhliche und kluge Tiere, und sie stimmen fröhlich. Unser damals drei Jahre alter Joscha konnte stundenlang im Frühjahr vor der Ziegenkoppel stehen und sich kringelig lachen ob der Sprünge und Kapriolen der Lämmer. Dass mir die Tiere neben so schönen und heiteren Stunden auch eines meiner schmerzhaftesten Erlebnisse im Leben bescheren sollten, das lag noch in weiter Ferne. Davon später.

Eine Begebenheit ist mir besonders im Gedächtnis haften geblieben, da sie das Verhältnis Tier / Mensch auf besondere Weise beleuchtet. Wir hatten hinter den Mahdwiesen ein Buschland, ideales Terrain, um dort die Ziegen weiden zu lassen. Nun war das Land, welches zu unserem Hof gehörte, nicht eingezäunt, und meistens ging jemand von uns mit, um ein oder zwei Stunden die Ziegen dort zu hüten. Ich selber tat das sehr gerne, denn in der Ruhe des Buschlandes, nur mit den paar Ziegen, die wählerisch hier knabberten und dort sich ein Kräutchen zupften, das war Entspannung pur.

Nur manchmal hatten wir keine Zeit dazu, mit zu gehen, und dann konnte schon passieren, dass wir das letzte Koppeltor einfach öffneten und die Tiere allein ins Buschland laufen ließen. Das hatte an diesem Tag B. getan, und als sie über die Koppeln zurück zum Haus ging, kam Gazelle, die Leitziege hinter ihr her gesprungen. Gazelle umkreiste B. einmal, zweimal, lief ein Stück zurück Richtung Buschland, und begann mit diesem Tun wieder von vorn. B. verstand: Sie sollte mitkommen.

Angekommen bei der Gruppe, stand der Rest der Ziegenschar in einer Reihe oben und schaute wachsam in eine Richtung. Als B. mit Gazelle dort ankam, verteilte sich die Gruppe und begann zu äsen. Irgendetwas muss dort oben gewesen sein, ein Hund vielleicht, was den Tieren nicht geheuer war. So wurde dann Hilfe geholt bei den Hütern der Herde. 

Es gab zu der Zeit kaum Hafer in den Mengen in Bioqualität als Tierfutter zu kaufen, wie wir es benötigten. Da ich bei einem alten Bauern das Aussäen und Ernten von Hand des Getreides erlernt hatte, machte ich mich daran, einen Teil der Wiesen umzubrechen und dort Hafer und Roggen aus zu säen. Hafer für die Tiere und Roggen für uns. Wir hatten im Sommer eine reiche Ernte, und konnten den Hafer in Garben verfüttern, was zur Folge hatte, dass die Ziegen auch einiges von dem Stroh mit fraßen. So gesund wie in dem Winter war die Herde vorher nicht. Das Fell aller Tiere nahm einen ausnehmend seidigen Glanz an und alle kamen ohne Ziegenschnupfen durch den Winter. Unsere Ställe am Haus waren unbeheizt, und wenn es sehr kalt war, war morgens schon einmal das Wasser in den Wassereimern gefroren.

Einen Effekt hatte diese Umstellung jedoch: Wir konnten die Ziegen im Sommer nicht mehr zum Hüten bringen, schließlich hätten sie dann durch die Getreidefelder laufen müssen. Zwar behalfen wir uns, dass ich ein- bis zweimal am Tag Zweige schnitt von Birke und Esche und Erle und was sonst dort wuchs, und den Ziegen in die Koppel brachte, was sie auch dankend annahmen. Doch ersetzt das nicht, was die Ziegen sich nach eigenem Gusto suchen. Wir spürten das an der Qualität der Milch. War die Milch vorher fast sämig und von einem süßen Geschmack, mit einer Kokosnote, wurde sie ohne die selbstgesuchten Kräuter eine Milch, die, na, die eben nach Milch schmeckte. Nicht schlecht, nicht gut, aber nicht mehr so unvergleichlich.

Schön war es zu beobachten, wenn es so weit war, wie die Ziegen sich einem Bock zuwandten. Unser Bock, der stattliche Pan, durfte dann jeweils mit einer Dame auf die Koppel. Da war kein dösiges Gerammel, es war ein über mehrere Stunden sich hinziehendes Liebesspiel, voll zärtlicher Neckereien, "Küsschen", Umspielungen und sanftem Knabbern. Die Tiere ließen sich ausgiebig Zeit, das zu genießen. Was sicher für ihre Intelligenz spricht.

Konsequent zu sein hat Konsequenzen. Ich hatte mich für die Tierhaltung entschieden, für Hühner, Ziegen und Bienen. Wenn dann im Spätwinter und zeitigem Frühjahr die Lämmer geboren wurden, begann eine anregende Zeit. Die Ziegen brauchten für das Gebären weder unsere Unterstützung noch einen Tierarzt. Je ausgewachsener Ziege gab es zwei Lämmer, die jüngeren, die das erste Mal lammten, brachten meist nur eines. So kommt bei fünf Ziegen einiges an Lämmer zusammen, und die Hälfte davon sind Bocklämmer.

Die lassen sich nicht alle als Zuchtböcke verkaufen, auch wenn wir teilweise Herdbuch führten. Das eine oder andere verkauften wir auch an jemanden, der Lammfleisch zu schätzen wusste. Ich selber wollte das nicht mehr so. Wir aßen ja selber Fleisch, und außerdem wollte ich mich auf die Probe stellen. Entweder, sagte ich mir, du gehst den Weg konsequent zu Ende, oder aber du lässt den Verzehr von Tierprodukten ganz. Ich entschloss mich aus diesem Grunde, selbst zu schlachten. 

Die ersten Hähne schlachtete ich noch im ersten Winter auf unserem Hof. Das ging verhältnismäßig einfach, ich hatte keine große persönliche Bindung zu den Gockeln, und durch den Winter fütterten konnten wir sie nicht. Sie wurden unsere Festtagsbraten. Ich versuchte immer, vorher so viele der Hähne wie möglich an andere Halter zu verkaufen. Nur zum Schlachten wollte ich das Verkaufen nicht mehr, das war mir zuwider. Es erschien mir irgendwie scheinheilig. 

Das Schlachten mehr ist als einfach nur "Kopf ab" und dann eine Zeit ein mulmiges Gefühl im Bauch, welches durch den darauf folgenden Braten gemildert wird, durfte ich anhand eines weißen Hahnes dann erfahren. Dieser war besonders schön, und ich bot ihn im Freundeskreis und via Zeitung an wie Sauerbier, doch niemand brauchte einen weißen Zuchthahn. Eines Tages rettete ich das Tier, es war aus dem Hühnergehege ausgeflogen, aus dem Maule eines Hundes. (Das Entkommen gestaltete sich folgendermaßen: Der Hahn flog zuerst auf den Rücken einer am Zaun stehenden Ziege, dann auf die Hörner und dann ab über den Zaun. Das nennt sich gelungene Zusammenarbeit). 

Meine Rettungsaktion hatte zur Folge, dass der Hahn zu mir, dem Retter, Vertrauen gewann. Als ich ihn dann des Abends zum Schlachten abholte, kuschelte er sich ganz vertraulich in meine Armbeuge, ein Streicheltier. So miserabel hatte ich mich vorher noch nie beim Schlachten gefühlt, und dieses Mal ging es nicht spurlos an mir vorüber. Ich hatte einen Vertrauensbruch begangen. So fühlte ich mich. In meiner Seelennot ging ich zu einer Erlengruppe auf unserem Land, die ich schon immer als "magisch" empfunden hatte. Wenn die Elfen bei uns wohnen sollten, dann dort.

Dort streute ich Mais und hängte als Opfergabe einige zusammengebundene Blätter vom selbstgezogenen Tabak und vom Salbei hinein, beides heilige Pflanzen der Indianer, das wusste ich; und sprach ein Dankgebet. Ich lernte unmittelbar, was die Menschen, welche noch nicht der Beseeltheit der Natur entwachsen waren, wohl empfinden mussten. Es war ja keine christliche Beichte oder so etwas, ich wollte auch keine Absolution für mein Tun. Nein, das musste ich schon selbst verantworten und tragen. Doch ich wollte mich irgendwo hin wenden und meine Dankbarkeit bekunden, dass uns diese Gabe angetragen worden war. Es war eine Art Seelenreinigung, die ich zelebrierte. Erst dann war es mir möglich, vom Fleisch des Hahnes zu essen.

Interessant übrigens war, dass am nächsten Tag von meinem Kräuterbündel noch die Tabakblätter hingen, der Salbei jedoch fort war. Von den Elfen oder von was auch immer geholt, schien es mir. Zuerst meinte ich, dass die Zeit der Indianer wohl überholt sei, und dass der Salbei die heilige Pflanze der Zeit wäre. Das wurde mir so deutlich gezeigt. Heute würde ich eher sagen, dass Pflanzen, die profan gebraucht werden, wir waren fast alle Raucher und Raucherinnen in unserer Gemeinschaft, sich für das Sakrale nicht mehr eignen. 

Die Hähne zu schlachten hatte ich gelernt. Bei den Ziegenlämmern wollte ich eine Fachperson dabei haben und fand sie  bei uns im Dorf. Ein feinfühliger Schlachter (ja, so etwas gibt es!), der mir zur Hand gehen wollte und mich lehren, wie man diese Tiere schlachtet und dann fachgerecht verarbeitet. Im ersten Jahr würde er Schlachten und ich assistieren, im zweiten Jahr umgekehrt, das war die Abmachung.

Im ersten Frühjahr war eines der Bocklämmer dran, das uns von einer noch jungen Ziegendame geschenkt worden war. So stand ich geborenes Stadtkind, das eigentlich kein Blut sehen konnte, tapfer neben dem Schlachter und assistierte. R., der dem Erlebnis auch beiwohnen wollte, war nach kurzer Zeit verschwunden. Ihn fand ich später, bleich im Gesicht wie eine ungestrichene Rauhfasertapete und mit einer Flasche Korn in der Hand, in der kühlen Badewanne liegend. Ihm ging es ganz offensichtlich nicht gut. 

Ich überstand das Geschehen einigermaßen unbeschadet und übernahm dann auch die Zubereitung des Fleisches. Drei Tage aßen wir davon, wir und unsere Gäste. Im folgenden Jahr war ich "dran". ausgerechnet in dem Jahr war es ein Bocklamm von meiner Freundin Gazelle, der Leitziege. Schon, als ich es aus dem Stall holte, und dabei Gazelle in die Augen sah, wusste ich, dass sie wusste, was da geschah. So begann eines der schmerzhaftesten Erlebnisse meines Lebens. Wir, der Schlachter, der mir nun die Handreichungen darbot, und ich, stellten das Lämmchen auf einen Tisch, gaben ihm etwas zu fressen, und noch während es fraß, traf es der Betäubungsschlag des Hammers. 

Es meckerte noch einmal kurz auf, in den Augen Ungläubigkeit, dann musste ich das Messer ansetzen. So elend war mir selten in meinem Leben gewesen. Den gesamten darauf folgenden Tag musste ich alleine sein, konnte auch nicht die Ziegen besuchen. Nur gut, dass B. das Melken und Füttern übernhemen konnte. Als ich wieder zurück zu meiner Ziegengruppe in den Stall kam, wusste ich, dass das Verhältnis sich verändert hatte. Gazelle hatte mir ihr Vertrauen entzogen, ich war nicht mehr Teil der Gruppe, ich war außen, und ich sollte nie mehr ganz "hinein" kommen.  



Mehr über Ziegen gibt es hier:




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