Montag, 25. Juli 2016

Die beiden Schäferjungen - Ein Märchen aus Fredelsloh

Die Einbandzeichnung des Buches "Aus Niedersachsens Märchenschatz" von Gustav Olms



Die beiden Schäferjungen  -  Ein Märchen aus Fredelsloh

Dies ist ein Märchen, das ich in dem Buch „Aus Niedersachsens Märchenschatz  -  Schöne alte Volksmärchen und Schwänke aus Niedersachsen, gesammelt und herausgegeben von Karl Henniger und Johann von Harten“ (1923) mit dem Zusatz „Aus Fredelsloh im Solling“ gefunden habe. Illustriert hat das Büchlein Gustav Olms (1864 – 1930).

Schrieben doch schon die Gebrüder Grimm, unsere vertrauten Märchenonkel: „Es wird dem Menschen von Heimatswegen ein guter Engel beigegeben, der ihn, wenn er ins Leben auszieht, unter der vertraulichen Gestalt eines Mitwandernden begleitet  . . . Diese wohltätige Begleitung ist das unerschöpfliche Gut der Märchen, Sagen und Geschichten, die uns die Vorzeit als einen frischen, lebendigen Geist nahe zu bringen suchen.“

Nun ist das Märchen von den beiden Schäferjungen eher ein Alltagsmärchen, ohne Prinzessinnen, die erlöst werden wollen, ohne Rätselfragen und ohne des Teufels Großmutter. Allenfalls eine Räuberbande kommt darin vor. Ich mag auch gar nicht so viel in diese eher drollige Geschichte hineingeheimnissen, doch beim Lesen schien mir manches als eine Parabel auf unsere traumdunklen Zeiten. Fürchten wir uns nicht auch vor unserem eigenen Schatten, und werfen ihm unsere Speisen und Löffel hin, anstatt einmal inne zu halten und ihn uns genauer anzuschauen? Versuchen wir nicht auch, das freie Schweifen von Gefühlen und Gedanken wie der Schäfersjunge die ungezogenen Schafe durch Abtöten still zu bekommen? „So, nun lauft ihr mir nicht mehr weg!“

Und wenn wir dann feststellen, dass unsere Dummheit Schaden angerichtet hat, versuchen wir nicht auch, einfach weg zu laufen? Da ist der Klügere nicht klüger als der Dumme. Und beide sind gefräßig genug, um sich in der Nacht noch unrechtmäßig ihren Teil zu holen. Nur, wenn sie dann noch Dümmeren begegnen, geht die Geschichte wenigstens gut aus. Im Märchen. In der heutigen Zeit hoffe ich dennoch, dass sich die Menschen noch einmal besinnen, und lernen, dass sich weder das Räubern lohnt, noch die Dummheit, die sich als Klugheit ausgibt, und nach Hause kommen und. . . Schafe hüten.

Auf jeden Fall zeigt dieses Märchen, dass früher auch nicht alles besser war, und Dummheit und Gefräßigkeit und Raubgier herrschten. Es sieht wohl auch heute noch so aus: „Sicher haben die Dummen oft das meiste Glück in der Welt“. Doch haben wir noch heute in Fredelsloh eine Schäferin, und die ist alles andere als dumm, und lässt ihre Schafe zusammen mit Ziegen die Kalkmagerrasen auf der Weper abweiden, so dass uns die dort ansässige seltene Flora erhalten bleibt und nicht von Gesträuch und Gestrüpp überwuchert wird. Landschaftspflege. Kein Märchen.

Vor alter Zeit lebte einmal ein Schäfer, der hatte zwei Jungen, einen dummen und einen klugen. Eines Tages hatte der Vater keine Zeit, und die beiden mussten die Schafe hüten. Als es nun gegen Mittag kam, sagte der Kluge zum Dummen: „Geh nach Haus und iss, und bring mir auch einen Topf voll Essen mit; vergiss aber den Löffel nicht!“

Der Dumme tat, wie ihm sein Bruder gesagt hatte. Es war aber Sommer, und die Sonne schien hell. Wie der Junge auf dem Herwege sich einmal umguckte, sah er seinen Schatten hinter sich; in seiner Dummheit aber glaubte er, es wäre ein schwarzer Mann, der etwas von seinem Essen abhaben wollte. „Geh weg!“ sagte deshalb der Junge und blieb ärgerlich stehen. Nun blieb der Kerl auch stehen. Als der Junge aber weiterging, war der Schwarze wieder hinter ihm. „Na, da hast du einen Löffelvoll; damit gibt dich zufrieden!“ sagte der Junge und warf seinem Schatten einen Löffelvoll Essen hin. Doch das half nichts: der Schatten blieb ihm nach wie vor auf dem Hacken. Da gab er ihm noch einen Löffelvoll, dann noch einen und so fort, bis nichts mehr im Topfe war. Und als der Kerl immer noch mitging, warf er ihm auch noch den Löffel und den Topf hin.

Als er nun zu seinem Bruder kam, fragte der nach seinem Essen. Da erzählte der Dumme, wie es ihm mit dem schwarzen Kerl ergangen wäre. „Ach“, rief der andere, „habe ich je so einen Dummerjahn gesehen! Das war ja dein Schatten. Mit dir ist´s schlimm, und mit deiner Dummheit nimmt es mal kein gutes Ende!  -  Doch du hast nun gegessen; jetzt bleib du bei den Schafen, und ich gehe hin und esse. Aber dass du mir die Schafe immer hübsch beisammen hältst und keins verlierst!“ Der Dumme versprach alles, und der andere ging.

Doch die Schafe wollten dem Jungen nicht gehorchen; bald liefen sie hierhin, bald dahin; er konnte sie nicht beisammen halten, so große Mühe er sich auch gab. Da wurde er zuletzt wütend, nahm sein Messer, schnitt den Tieren der Reihe nach den Hals ab und warf sie alle auf einen Haufen. „So“, sagte er, „nun lauft ihr mir nicht mehr weg!“

Als der Bruder wiederkam und sah, was der Bengel angerichtet hatte, erschrak er nicht schlecht. „Junge“, rief er, „was hast du gemacht? Jetzt können wir nur Reißaus nehmen; denn zu Hause dürfen wir uns nicht mehr blicken lassen. Habe ich´s nicht immer schon gesagt, dass du noch einmal was anrichten würdest! Nun ist das Unglück geschehen!“ Das sah denn auch der Dumme ein, und sie machten sich, was siehst du, was hast du, davon.

Sie gingen den ganzen Tag. Gegen Abend kamen sie auf einen Bauernhof, und weil es schon dunkel wurde, so fragen sie, ob sie dort wohl über Nacht bleiben könnten. „Ja“, sagte die Bauersfrau, „das könnte ihr; aber morgen früh müsst ihr mir dreschen helfen!“ Damit waren die beiden einverstanden. Als nun das Abendbrot aufgetragen wurde, mussten die Jungen mit an den Tisch setzen. Es gab  Erbsensuppe, und die beiden ließen sich´s gut schmecken. Doch als sie gerade im besten Zuge waren, meinte der Bauer: „Mit Erbsen kann man sich leicht den Magen überladen, und dann gibt es schwere Träume. Besser ist es, wir hören jetzt auf.“ Damit legte er den Löffel weg, und die anderen hörten auch auf. Noch ganz hungrig mussten die beiden Schäferjungen vom Tische weg auf den Heuboden, wo sie schlafen sollten.

Als sie eine Weile gelegen hatten und im Hause alles still war, sagte der Dumme zu den andern: „Ich bin aber noch so hungrig.“  -  „Ich auch“, flüsterte der Kluge. Nach ´ner Weile fing der Dumme wieder an: „Du, ich habe gesehen, wohin die Frau den Topf mit Erbsen gestellt hat. Weißt du was: Ich hole ihn her!“  -  „Ja, das tu!“ sagte der Älteste. Da schlich sich der Junge herunter und brachte auch den richtigen Topf mit den Erbsen, und die beiden aßen sich tüchtig satt.

Darauf sagte der Kluge zu seinem Bruder: „Nun können wir nur die Tür auf den Nacken nehmen und weglaufen; denn hier ist unsers Bleibens nicht länger!“  -  „Gewiss“, meinte der andere, „ich bin dabei; dreschen ist sowieso nicht mein Fall. Doch erst will ich noch einen Topf voll Erbsen mit auf den Weg nehmen; ich habe vorhin gesehen, der Stieltopf steht im Ofen und ist noch ganz voll.“ Damit schlich er sich noch einmal in die Stube und holte noch einen Topf voll Erbsen, und dann nahm er  -  da er doch alles wörtlich verstand  -  die Hecketür auf den Nacken und machte sich hinter seinem Bruder her.

Sie gingen nun immer weiter, bis sie in einen großen Wald kamen; darin war es so finster, dass sie keine Hand vor Augen sehen konnten. Sie beschlossen daher, hier über Nacht zu bleiben. In dem Walde gab es aber Räuber; deshalb sagte einer zum andern: „Lasst uns auf einen Baum steigen; denn sonst, wenn uns die Räuber finden, sind wir verloren!“ Das taten sie denn auch, und der Jüngste nahm die Tür samt dem Topf voll Erbsen mit hinauf.

Kaum hatten sie oben Platz genommen, so kamen auch richtig Räuber daher, die setzten sich gerade unter diesen Baum und fingen an, ihr Geld zu zählen. Den beiden Jungen klapperten vor Angst die Zähne im Kopfe; aber keiner rührte und regte sich. Als die Spitzbuben stundenlang sitzen blieben und keine Anstalt zum Weggehen machten, wurde dem Jüngsten zuletzt seine Last zu schwer, und er flüsterte seinem Bruder ins Ohr: „Ich kann meinen Topf nicht mehr halten; ich gieße etwas heraus.“  -  „Tu das ja nicht“, flüsterte der andere, „sonst kommen die Räuber herauf und machen uns tot!“ Doch der Dumme sagte: „Ich kann nicht mehr. Ich tu es doch!“  -  „Na, denn in Gottes Namen!“ sagte zitternd der andere. Und gleich goss der Jüngste die Brühe aus dem Topfe, dass es nur so herunter pladderte, gerade den Räubern auf die Köpfe. Die Spitzbuben waren aber so mit ihrem Gelde Beschäftigt, dass sie nicht weiter aufsahen und bloß vor sich hin sprachen: „Gott beschert uns einen warmen Regen!“

Eine Zeitlang verhielt sich der Dumme ruhig; dann fing er wieder an: „Der Topf ist noch so schwer, weißt du was, ich schütte alles heraus.“  -  „Junge“, meinte der Bruder, „tu das nicht; sonst kommen die Räuber herauf und machen uns tot!“  -  „Und ich tu es doch!“ trumpfte der Kleine auf. „Na, denn in Gottes Namen!“ sagte leise der Große. Nun schüttete der Dumme auch die Erbsen herunter. Als die den Räubern um die Köpfe tröpfelten, sagten sie: „Gott beschert uns warmen Brei!“

Eine ganze Weile war alles still; dann fing der Dumme wieder an: „Die Tür drückt mich sehr; das beste ist, ich werfe sie herunter.“  -  „Dummer Junge“, schalt der Große, „weshalb hast du sie mitgeschleppt? Nun behalt sie auch oben! Wirfst du sie hinunter, so kommen die Räuber herauf und machen uns tot!“  -  „Du hast es mir doch selber gesagt! Und ich kann sie nicht mehr halten; ich werfe sie weg.“  -  „Na, wenn du nicht hören willst“, sagte der andere, „dann wirf sie weg in drei Teufels Namen!“ Jetzt ließ der Dumme die Tür fallen, dass sie nur so im Baume herunter klabasterte. Als das die Spitzbuben hörten, ließen sie sich ins Bockshorn jagen, dass sie aufsprangen und riefen: „Der Himmel zerbricht! Der Himmel zerbricht!“ Sie liefen ohne ihr Geld davon und ließen sich auch nicht wieder blicken.

Am andern Morgen stiegen die Jungen vom Baume herunter, nahmen das Geld, das die Räuber hatten liegen lassen, und gingen wieder nach Hause zu ihrem Vater, und der war froh, dass er die Jungen wieder hatte. Noch mehr freute er sich, als sie ihm das Geld gaben; denn nun konnte er sich wieder eine Herde Schafe kaufen, mehr noch, als er gehabt hatte. So haben die Dummen oft das meiste Glück in der Welt.



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